Sex ist mehr als eine Frage der Stellung

Nicole Eisenman, »It Is So«, 2014
Nicole Eisenman, »It is so«, 2014, Öl auf Leinwand, 165 x 208 cm, Hall Collection © Nicole Eisenman
Museumsjournal 2/24
Wie zeigt sich Sexualität in einer Welt, die sich rasant verändert? Dem geht nun das Jüdische Museum mit einer Ausstellung über Tabus, menschliches Begehren und erotisches Vergnügen auf den Grund

Ein faszinierender Prozess spielt sich innerhalb der jüdischen Welt ab: Religiöse Leitfiguren und Organisationen, populäre Podcasts und Ratgeber haben ein Gespräch über Sexualität und Judentum eröffnet und setzen sich mit gesellschaftlichen Tabus auseinander. Diese teilweise neuen Stimmen erörtern, wie jüdische Sexualität in einer Welt aussehen könnte, in der sich gesellschaftliche Sitten sowie die sexuelle und geschlechtsspezifische Vielfalt rasant verändern.

 

In diesem Kontext entstand die Ausstellung »Sex. Jüdische Positionen«. Das Wortspiel zielt auf einen Zeitgeist, der gängige Vorstellungen von Sexualität und Judentum sowohl aus der Außen- als auch aus der Binnenperspektive erneut überprüft. Im Zentrum der Ausstellung steht die These, dass die jüdische Tradition Sexualität weder ausschließlich befürwortet noch unterdrückt. Denn beide Auffassungen treffen zu – ebenso alle Schattierungen dazwischen: Es bleibt eine Frage der eingenommenen Position. Zu keinem Thema ist das Judentum einhellig einer Meinung, auch nicht in Hinblick auf den essenziellen Lebensbereich der Sexualität und die zugehörige umfangreiche halachische, das heißt religionsgesetzliche Literatur.

 

In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist bezüglich Sexualität und Diversität vieles, was zuvor ein Nischendasein führte, im Mainstream angekommen – auch innerhalb des Judentums: Fanden sich früher nur vereinzelte Beiträge zum Intimleben von Jüdinnen und Juden, seien sie nun streng orthodox oder säkular, so bedienen preisgekrönte Netflix-Verfilmungen wie »Shtisel« und »Unorthodox«, Reality-TV- und Dating-Shows wie »My Unorthodox Life« und »Jewish Matchmaking« inzwischen eine große Nachfrage.

 

Desgleichen die von einer orthodoxen Sexualtherapeutin und einem Rabbiner gemeinsam moderierten Podcasts wie »Intimate Judaism« (seit 2018) oder »The Joy of Text« (2016–2022), die sich an ein jüdisches Publikum richten. Sie befassen sich mit sexuellen Fragestellungen innerhalb des orthodoxen Judentums, interpretieren einschlägige religiöse Texte und lassen Gäste aus Therapeutik, Religion und Wissenschaft zu Wort kommen. Anhand dieser aktuellen Gesprächsformen lässt sich erkunden, wie jüdische Sexualität in einer Welt sich dynamisch entwickelnder sexueller und genderbezogener Vielfalt und Ausdrucksformen aussehen könnte, einer Welt, in der es auch um Fragen der Zustimmung und des Missbrauchs geht.

 

Die Ausstellung ist in Kooperation mit dem Joods Museum in Amsterdam entstanden (und dort vom 22. November 2024 bis 25. Mai 2025 zu sehen). Sie gliedert das komplexe Feld der jüdischen Sexualität in vier große Bereiche. »Pflicht und Vergnügen« befasst sich mit der zentralen Bedeutung von Ehe und Fortpflanzung in der jüdischen Tradition, mit den komplizierten Aspekten sexueller Lust und den Charakteristika traditioneller Ansichten in der heutigen Zeit. »Begehren und Kontrolle« handelt von Vorstellungen ritueller Reinheit, der Beherrschung des sexuellen Verlangens und der Frage, wie Kontrolle und sexuelle Befreiung nach heutigem Verständnis vereinbar sein könnten. »Sexualität und Macht« nimmt die Bedeutung von Tabu und Fantasie für die menschliche Sexualität in den Blick. Die Sexualwissenschaft und der Einfluss bahnbrechender Denker auf unser Verständnis von Sexualität, wie Sigmund Freud und der Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, werden ebenso vorgestellt, wie die Relationen zwischen Sexualität und Identitätsbildung, sowohl im Hinblick auf das Kollektiv wie auf das Individuum. »Erotik und das Göttliche« widmet sich den faszinierenden Verbindungen im mystischen Denken zwischen Gott und menschlicher Sexualität sowie der in Ritual und Gebet hingebungsvoll aufscheinenden inhärenten Sinnlichkeit. Das »Lied der Lieder«, diese außergewöhnliche Sammlung erotischer Dichtung in der hebräischen Bibel, die der Gelehrte Rabbi Akiva (um das Jahr 100 unserer Zeitrechnung) als das »Allerheiligste« überhaupt bezeichnete, bildet den Schlusspunkt.

 

»Sex. Jüdische Positionen« beschreibt einen Dialog, der sich über Jahrhunderte erstreckt. Die als Gesetz in Talmud und rabbinischen Schriften seit der Antike kanonisierten jüdischen Standpunkte begegnen in der Ausstellung moderner und zeitgenössischer Kunst, historischen Objekten, Judaika, Manuskripten, Filmen und sozialen Medien. Ohne den Anspruch, die erschöpfende Darstellung einer kontinuierlichen Geschichte zu liefern, wirft die Ausstellung Schlaglichter auf sich auch manchmal widersprechende Haltungen, die nach langwährenden Debatten und auf der Basis sozialer Normen entstanden sind und oft zu unerwarteten Verbindungslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart führen. Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen in Europa, Israel und Nordamerika veranschaulichen die Heterogenität der unterschiedlichen Standpunkte. Diese Vielfalt demonstriert die Auftragsarbeit von Noa Snir, einer in Berlin lebenden israelischen Künstlerin. Die von ihr illustrierte Serie sexuell expliziter Debatten und Szenen aus dem babylonischen Talmud unterstreicht die Tatsache, dass die frühen Rabbiner keineswegs prüde waren, sondern gemeinsam intensiv über sämtliche Fragen der Sexualmoral diskutierten. Eine der kuriosesten Szenen stammt aus dem Traktat Berachot. Es wird beschrieben, wie sich der Gelehrte Rav Kahana als junger Mann in das Schlafzimmer seines Lehrers Rabh schleicht, um dessen Verhalten beim Geschlechtsverkehr zu beobachten und daraus zu lernen. Kahana versteckt sich unter dem Bett, während Rabh und seine Frau einander lieben, und ist schockiert zu erleben, wie ausgelassen und liebevoll Rabh mit seiner Frau umgeht, da er von seinem verehrten Lehrer mehr Zurückhaltung erwartet hätte. Als Rabh entrüstet feststellt, dass Kahana ihn und seine Frau in diesem intimsten aller Momente ausspioniert, befiehlt er wütend seinem Schüler zu gehen. Interessanterweise behält Kahana das letzte Wort. Er entschuldigt sich nicht respektvoll, sondern verteidigt seine Schnüffelei auf ungewöhnliche Weise: »Es ist Tora und ich muss lernen.«

 

Ungeachtet dessen, ob es Rav Kahana gelang, die Weisen des Talmuds in diesem Punkt zu überzeugen, diente diese Szene während der Entwicklung des Ausstellungskonzepts als ständige Inspiration. Die Verwegenheit von Kahana, in jenem Moment auf seiner Unschuld zu bestehen, ist genauso verblüffend wie die Gewissheit, mit der er behauptet, Sex sei untrennbar mit der Tora verbunden.

 

Die kühne Stimme Kahanas hat den gesamten kuratorischen Prozess begleitet. Nicht nur als Forschungsgebiet von Bedeutung, ist das Thema ebenso wert, im Rahmen einer Ausstellung differenziert behandelt zu werden. Unabhängig davon, welcher Tora, welcher Lehre auch immer – ob heilig oder profan – der Vorzug gegeben werden mag, die Ausstellung bietet viele vergnügliche Überraschungen.

 

Text – Miriam Goldmann, Kuratorin

 

»Sex. Jüdische Positionen«

17.Mai bis 6.Oktober 2024

Jüdisches Museum Berlin

jmberlin.de

 

 

 

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