Wo die wilden Gedanken wohnen

Galli, »Langes Bild«, 1985–87
Galli, »Langes Bild«, 1985-1987, Acryl, Kreide auf Nessel, 150 x 180 cm, Courtesy the artist
Museumsjournal 3/24
Von Aufruhr, Poesie und Anarchie – die ungeheuerliche Malerei der Galli tanzt noch immer aus der Reihe

Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis die Kühnheit eines Werkes wirklich verstanden wird. So ist es auch mit Gallis Gemälden, Zeichnungen, Texten, den unendlich vielen selbstgemachten Büchern, die von den 1980er-Jahren bis in die jüngste Gegenwart entstanden sind. Schon der selbstgewählte Name, Galli, signalisiert Aufruhr, Halligalli. Da ist etwas Poetisches, Anarchisches, das hinaus will, ins Unbekannte, Ungewisse.

 

1944 im Saarland geboren, ist sie nicht nur bildende Künstlerin, sondern auch Literatin, Karikaturistin, Chronistin, Hörerin, Dadaistin, hinreißende Erzählerin – und vor allem eine anarchistische Störerin. »Seht zu, wie ihr zurechtkommt« ist auch der etwas spöttische Titel der Ausstellung, die die Kuratorin Annabell Burger in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Schloss Derneburg im PalaisPopulaire organisiert hat. Die Schau setzt nach Präsentationen von Marc Brandenburg und K. H. Hödicke eine Ausstellungsreihe mit Künstlern und Künstlerinnen fort, die einen besonderen Bezug zu der Kunstmetropole Berlin und zur Sammlung Deutsche Bank haben.

 

Die Anfänge von Gallis ungestümer, auch expressiver Malerei fielen mit dem Aufstieg der »Neuen Wilden« in den Achtzigern zusammen. Seitdem wurde sie immer wieder als eine Art Randerscheinung dieser Strömung beschrieben, was den Blick auf ihre Arbeit völlig verengte. Doch während Rainer Fetting, Helmut Middendorf und Salomé im besetzten Kreuzberg von der Punk- und Wave-Szene und dem deutschen Expressionismus inspiriert werden, sind es bei Galli vor allem Literatur, Sprache, Lyrik, die ihre Praxis mitgeformt haben. Sie lebt und arbeitet abseits der Szene im bürgerlichen Friedenau, jenem literarischen West-Berliner Kiez, in dem auch Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass oder Max Frisch gelebt haben, in dem die Nobelpreisträgerin Herta Müller noch heute wohnt. Mit deren Vertrautem, dem deutsch-rumänischen Lyriker Oskar Pastior, war Galli befreundet und arbeitete mit ihm zusammen. Und in diesem Umfeld entsteht ähnlich wie bei Louise Bourgeois oder Maria Lassnig eine völlig eigenwillige, feministische, extrem physische Kunst, die in persönliche und kollektive Abgründe vordringt.

 

Wie ein roter Faden ziehen sich Ambivalenzen durch das gesamte Werk: Beschädigungen, Abhängigkeiten, Ängste, Lust, Last, Trauer, Scham, Träume, Traumata. Dabei ist Gallis Malerei im wahrsten Sinne von Ungeheuern bevölkert. Sie hausen in Wäldern und Träumen, bewohnen oder besetzen merkwürdig leere Häuser und kahle Räume. Manchmal sind von ihnen nur Arme, Beine, Hufe, Hände, Krallen zu sehen. Ihre Körper wirken, als seien sie aus Resten oder Stücken von verschiedenen tierischen, menschlichen oder mythologischen Wesen zusammengewachsen. Es scheint, als würden alle diese Teile aneinander zerren, irgendwohin anders, voneinander weg oder zueinander hinwollen, ekstatisch miteinander tanzen, kämpfen, sich lieben – so sehr, dass sie das Bild geradezu sprengen.

 

Weil die Künstlerin kleinwüchsig ist, wurde angesichts der verformten, verwundeten Körper, die sie malt, lange angenommen, dass es sich auch um Kunst über die Körpererfahrung von Kleinwüchsigen oder Menschen mit Behinderungen handeln muss. Sie sagt dazu: »Das ist klar, aber zu kurz gegriffen, wenn man das zu sehr auf den Kleinwuchs bezieht. Der Körper als Schlachtfeld, das trifft jeden.« Es geht also um mehr: um Ausbruch aus den gängigen, homogenen Wahrnehmungen. Aus den Normen, Konventionen, den immer wieder gleichen Geschichten, auch aus dem Vermächtnis der deutschen Geschichte, in die sie in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs hineingeboren wird. Es geht um die Opposition zu patriarchalischer Autorität, die Revolte gegen die verdrängte NS- Vergangenheit, den bleiernen, bürgerlichen Muff, das Auflehnen gegen eine Identität, die sich durch Nation, Hautfarbe, Sexualität, Ideologie definiert. Gallis künstlerische Praxis ist impulsiv, intuitiv – aber zugleich permanentes Nachdenken, ein Formulieren zwischen Text, Zeichen und Bild.

 

»Mich haben immer literarische Stoffe interessiert, die ins Bild fließen, Dada-Lyrik, Balladen, das Alte Testament«, sagt sie. Auch Wortfetzen aus dem Radio, irgendwo aufgeschnappte Sätze, können bei Galli Bilder von Körpern, Räumen, Landschaften auslösen. Sie beherrscht oder kontrolliert dabei die Malerei nicht, sondern lässt sie quasi geschehen, um dann darauf mit weiteren malerischen, kompositorischen Entscheidungen zu reagieren – die dann aber immer wieder über den Haufen geworfen werden: »Es ist ganz wichtig, dass man aus dem Chaos schöpft, dass man daraus was entwickelt. Es geht um Chaos, Sortieren, Chaos, Sortieren.« Ein dialektischer Prozess zwischen Intuition und Kontrolle also.

 

Einige Striche genügen, wie etwa auf »Langes Bild« (1985-87), um malerische Räume, Sprach- und Gefühlsräume zu schaffen, die aber im Ungefähren bleiben. Man kann in sie hineinlesen, was man will. In Gallis Figuren stecken Partikel von galaktischen schwarzen Löchern, Kopffüßern und Einzellern, genauso wie antike Mythen, Katholizismus, Gesprächsfetzen einer Talkshow, die historische Gewalt der Moderne oder die Höllen von Hieronymus Bosch. Nichts ist wichtig, nichts ist unwichtig, alles ungewiss. Gallis Malerei sieht heute erstaunlich aktuell aus. Das liegt auch daran, dass ihre Gemälde non-binär sind, keine einfachen Positionen beziehen, nicht unbedingt irgendwo dazugehören wollen. Man kann nicht sehen, ob nun ein Mann oder eine Frau sie gemalt hat. Ihr Werk ist wirklich sensationell, dabei ohne Pathos, bescheiden. Zugleich verhandelt es eine sehr aktuelle, nicht hierarchische Sicht auf das Verhältnis zwischen Zivilisation und Natur, auf unsere Vorstellung von Identität. Es hält ein Plädoyer für das »Fremde«, alles, was aus der Reihe tanzt, nicht unseren immer zweifelhafter werdenden Normen entspricht. Deshalb eben sollte man es nicht als die nächste Wiederentdeckung, nicht als Missing Link sehen, sondern als eine aktuelle Position. Es scheint wie geschaffen für diese gespenstische Zeitenwende, die Ungewissheit, in der wir gerade stecken.

 

Text – Oliver von Koerner von Gustorf, Autor »ArtMag« der Deutschen Bank

 

Galli. Seht zu, wie ihr zurechtkommt

bis 7. Oktober 2024

PalaisPopulaire

palaispopulaire.db.com

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