Wundersames Geschöpf 

Dario di Giovanni (um 1420 – vor 1498), zugeschrieben, ehemals Meister des Paris-Urteils/der Helena-Geschichte: »Jungfrau mit Einhorn (Porträt der Caterina Corner als Allegorie der Keuschheit)«, um 1467/68, Christliches Museum, Esztergom, Foto: Attila Mudrák
Museumsjournal 4/25
Seit Jahrtausenden entfesselt das Bild des Einhorns die phantastische Vorstellungskraft und verbindet Kulturen Seit Jahrtausenden entfesselt das Bild des Einhorns die phantastische Vorstellungskraft und verbindet Kulturen

Das Einhorn ist magisch. Es ist in keinem Zoo als lebendes Tier zu sehen, aber zugleich allgegenwärtig – in Popkultur, Werbung und in Kinderzimmern. Das eine Horn auf der Stirn, das kein anderer Vierfüßer trägt, gilt als Zeichen der Auserwähltheit. Es zeigt das Einhorn als etwas Außergewöhnliches, das einer anderen als der alltäglichen Welt angehört. Dieser übernatürliche Status, seine ferne Vertrautheit machen es zu einer Projektionsfläche für Sehnsüchte und Idealvorstellungen, die sich aus überlieferten Geschichten und Bildern speisen. Das Einhorn stand und steht für Freiheit und Unbezähmbarkeit, für Reinheit und Unschuld, für Natürlichkeit und Zuneigung. 

Dabei ist die Faszination für das Fabeltier kein neues Phänomen – sie reicht über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende zurück und ist in vielen Kulturen verbreitet. Ihren Ursprung hat die Erzählung vom Einhorn in Indien, von wo aus sie sich nach China und – über Persien und Ägypten – nach Europa verbreitete. Hier erhielt das Einhorn viele Bedeutungen: Es galt als Symbol für Christus, weshalb es auf vielen Altarbildern zu sehen war, sowie als Zeichen der Keuschheit und wurde oft mit einer jungen Frau gemalt. Außerdem wurden seinem Horn medizinische Wunderkräfte nachgesagt, weshalb sich viele Apotheken nach dem Einhorn benannten. 

Im Mittelalter zweifelte niemand an der Existenz des Einhorns, schließlich kam es auch in der Bibel vor. Außerdem gab es als sichtbaren Beweis das wundersame Horn des Einhorns, das in manchen großen Kirchen zu sehen war: eine lange weiße, spiralig gedrehte Stange, die oben spitz zuläuft. Erst im 17. Jahrhundert konnten Naturforscher beweisen, dass es sich dabei um einen Zahn des Narwals handelte. Aber auch diese wissenschaftliche Erkenntnis konnte der Anziehungskraft des Einhorns keinen Abbruch tun. 

Die Ausstellung beleuchtet an herausragenden Kunstwerken die vielen Facetten des Einhorns. Sie beginnt mit einer der ältesten Darstellungen, einem kleinen Siegelstein aus dem Indus-Tal im heutigen Pakistan, der etwa 4000 Jahre alt ist. Sie zeigt das monumentale Bild von Maerten de Vos aus dem Jahr 1572, das einzige jemals gemalte Einhorn-Porträt, das das Fabeltier als machtvollen, kampfbereiten Charakter präsentiert. Dagegen erscheint die Plastik eines goldfarbenen, knienden Einhorns aus Tibet aus dem 18. Jahrhundert liebenswert bescheiden. Auf einem Andachtsbild von etwa 1480 scheucht der Erzengel Gabriel das Einhorn zur Jungfrau Maria, hier ist es ein Symbol für Christus. Zu sehen ist das große Horn des Einhorns aus St. Denis, das im Mittelalter berühmt war und von vielen Pilgern aufgesucht wurde, ebenso wie alte Apothekengefäße für medizinisches Einhornpulver – das half der Legende nach gegen Vergiftungen und nahezu alle Krankheiten. Um 1533 malte Hans Baldung Grien das Einhorn mit anderen Geschöpfen im Paradies, Paulus Potter setzte es 1650 zur Legende von Orpheus, der die wilden Tiere besänftigte. Gedruckte Reiseberichte künden von angeblichen Einhorn-Sichtungen auf dem Sinai und in Mekka, Naturwissenschaftler wie Conrad Gessner erforschten das Tier. Kostbare Kunstkammergefäße aus Elfenbein oder Silber feierten im 16. und 17. Jahrhundert die Schönheit des Einhorns. 

Wie sehr das Einhorn für Künstlerinnen und Künstler seit dem 19. Jahrhundert zum Musterbeispiel der kreativen Phantasie wurde, zeigen Werke von Arnold Böcklin, der ein Einhorn mit Kuhaugen durch den Wald schreiten lässt, oder Arthur B. Davies, der um 1906 eine märchenhafte Landschaft mit vier Einhörnern ins Bild setzte. René Magrittes Einhorn vor einem Theatervorhang trägt als Horn einen mittelalterlichen Turm und hat unverkennbar weibliche Züge. Die künstlerische Inspiration des Einhorns wirkt bis in die jüngste Zeit, etwa in den Fotografien von Marie Cecile Thijs, Videoarbeiten von Maïder Fortuné oder Skulpturen von Olaf Nicolai. Auch Rebecca Horns bekannte Videoperformance wird in der Ausstellung zu sehen sein.
 

Knapp 150 Werke aus einem Zeitraum von etwa 4000 Jahren sind in der Schau versammelt, darunter Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken, illuminierte Manuskripte und Plastiken. Allein neun große Bildteppiche aus dem 15. bis 17. Jahrhundert werden nach Potsdam reisen. Viele dieser Werke werden nur selten ausgeliehen. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem GrandPalaisRmn und dem Musée de Cluny, Paris, wo sie im Frühjahr 2026 zu sehen sein wird. 

 

Text Michael Philipp, Kurator  

 

Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst 
25. Oktober 2025 bis 1. Februar 2026  

Museum Barberini, Potsdam  

museum-barberini.de 

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