Willkommen in der Wirklichkeit
Am Lützowplatz trifft die Gegenwart auf den historischen Realismusbegriff
2025 feiert das Haus am Lützowplatz (HaL) sein 65-jähriges Bestehen. Damit ist es der älteste Kunstverein Berlins. Mit der Ausstellung »Berliner Realistinnen. 65 Jahre Haus am Lützowplatz« stellt das Haus seine Gründung in den Mittelpunkt einer kritischen Rückbesinnung und fokussiert das kulturpolitische Engagement des Vereins.
Die Geschichte des HaL begann im April 1960, als sich auf Initiative der Berliner SPD unter dem Vorsitz des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt ein Fördererkreis bildete, der das gründerzeitliche Haus am Lützowplatz 9 erwarb. Nach einem mehr als zehnjährigen Restitutionsprozess hatte die im Nationalsozialismus verfolgte Familie Fürstenberg ihre Eigentumsrechte an der Immobilie im Dezember 1959 vom Verein Berliner Künstler (VBK) zurückerlangt. Das Haus war 1938 von den zur Emigration gezwungenen jüdischen Eigentümern vom VBK erworben worden und wurde während des Krieges stark beschädigt. Der Verein konnte es mit eigenen Mitteln teilweise instandsetzen und betrieb es ab 1950 als neues Kulturzentrum. Die Kommunale Galerie des Bezirks Tiergarten mietete das erste Obergeschoss. 1962 begannen umfangreiche Rekonstruktions- und Umbauarbeiten unter der Leitung des Architekten Fritz Gras, finanziert durch die Deutsche Klassenlotterie und das Amt für Stadtbildpflege des Berliner Senats. Im November 1963 wurde das Haus als neuer Ort für die Präsentation vorrangig zeitgenössischer Kunst feierlich an die Öffentlichkeit übergeben.
In der aktuellen Ausstellung trifft historisches Bild- und Archivmaterial zur städtebaulichen Situation des Lützowplatzes auf ein Reenactment einer frühen wegweisenden Präsentation der West-Berliner Kunstszene: Die historische Schau »1. Mai Salon. Berliner Realisten 71« aus dem Jahr 1971.
Kritischer Realismus prägte um 1970 die West-Berliner Avantgarde und galt als politisch aufgeladener Gegenentwurf zur Abstraktion. Rückgriffe auf die Kunst der Neuen Sachlichkeit der Weimarer Republik verbanden sich mit einer Reflexion des Lebens in der geteilten Stadt. Konrad Jule Hammer, der erste künstlerische Leiter des HaL, erkannte darin eine Übersetzung für die Aufbruchstimmung der einst revolutionären Mai-Kundgebungen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften und schrieb im Ausstellungskatalog: »Der 1. Mai Salon […] reflektiert unsere Gegenwart, die kritischen ›Siebziger‹ und die ideologische Trümmerlandschaft 100 Jahre nach Bismarcks Reichsgründung.« Mit dieser Haltung versammelte er 1971 Arbeiten von 27 Berliner Künstlern und einer Künstlerin, der Malerin Barbara Keidel. Damit begann eine bis 1990 anhaltende Reihe von »1. Mai-Salons«, die das HaL als sozialpolitisch engagierte Institution bis heute prägt.
In konsequenter Umkehrung der ehemals männlich dominierten Ausstellung vereint die Schau im Jahr 2025 Arbeiten von 28 Berliner Künstlerinnen. Inhaltlich lehnt sie sich an den in den 1970er-Jahren verhandelten Realismusbegriff an und erweitert diesen zum Stilpluralismus der Gegenwart, der sich auf der Basis individueller Wirklichkeitskonzepte von Foto- und Hyperrealismus bis hin zum magischen Realismus erstreckt.
»Das Persönliche ist politisch.« Diese Losung rief die feministische US-amerikanische Aktivistin Carol Hanisch 1969 aus. In diesem Sinne findet sich in den Gemälden, Zeichnungen und Plastiken der seit den 1970er-Jahren geborenen Künstlerinnen auch ein Blick auf aktuelle genderspezifische Aspekte. Die Werke repräsentieren einen zeitgenössischen weiblichen Großstadtrealismus, der auf das Leben in der seit 1989 wiedervereinigten Metropole reagiert.
Zum 1. Mai-Salon 1971 stellte der »Tagesspiegel« fest, »dass der Acker in Berlin zur Zeit gut bestellt ist im Bereich des Realismus«. Heute sind die surrealen stadträumlichen Brachen der Nachkriegsjahre ebenso verschwunden wie bezahlbare Ateliers. Doch vielfältige subkulturelle Freiräume des Miteinanders sind gewachsen, und auf dem Acker der Kunst kann längst geerntet werden.
Text – Marc Wellmann, Künstlerischer Leiter und Asja Wolf, Ko-Kuratorin
Berliner Realistinnen – 65 Jahre Haus am Lützowplatz
bis 9. Juni 2025
Haus am Lützowplatz (HaL)