Wahrnehmung im Farbenrausch
Entlang der Biografie von Karl Schmidt-Rottluff wird sein wegweisendes, expressionistisches Werk gefeiert und an die Gründungsstunde des Brücke-Museums erinnert
»Immer wieder muss die Welt neu gesehen werden«, schrieb Karl Schmidt-Rottluff 1951 in einem Brief an seinen Freund, den Maler Erwin Hinrichs. Nach diesem Leitmotiv arbeitete der Brücke-Künstler fast sieben Jahrzehnte und brachte es in farb- und formstarken Landschaften, Figurenbildern und Stillleben zum Ausdruck. Diese anhaltende Neugier macht die großangelegte Einzelausstellung im Brücke-Museum sichtbar. Rund 70 Gemälde aus den Schenkungen von 1964 bis 1974 sowie aus dem Künstlernachlass laden zu einem biografischen Rundgang ein.
1884 in Rottluff bei Chemnitz geboren, zog Schmidt-Rottluff 1905 für ein Architekturstudium nach Dresden. Über seinen Jugendfreund Erich Heckel lernte er die Kommilitonen Ernst Ludwig Kirchner und Fritz Bleyl kennen. Getrieben vom Willen, Kunst und Kunstbetrieb zu revolutionieren, gründeten die jungen Autodidakten noch im selben Jahr die Künstlergruppe Brücke. Bis zu ihrer Auflösung 1913 prägte die Gruppe das künstlerische Schaffen von Schmidt-Rottluff.
Zeit seines Lebens verfolgte er einen selbstgewählten Rhythmus: Wo auch immer sich der Künstler aufhielt, die Sommer verbrachte er stets am Wasser. 1907 reiste er nach Abbruch seines Studiums nach Dangast an die Nordseeküste. Dort fand er in den folgenden Jahren zu einer eigenen Bildsprache: Die anfangs skizzenhaften Pinselstriche wichen zunehmend ruhigeren, konstruktiven Formen in pulsierenden Farben. Besonders die Landschaft und die Lichtverhältnisse der Region beeinflussten seine Kunst. In leuchtenden Gemälden wie dem »Deichdurchbruch« (1910) hielt er diese Eindrücke fest. Seine künstlerische Suche beschrieb Schmidt-Rottluff 1914 so: »[…] von mir weiß ich, dass ich kein Programm habe, nur die unerklärliche Sehnsucht, das zu fassen, was ich sehe und fühle, und dafür den reinsten Ausdruck zu finden.« Diese Suche trieb seine Stilentwicklung an – jeder neue Ort, jede Lebensstation wurden zur Gelegenheit, die Welt neu wahrzunehmen und malerisch zu fassen.
Schmidt-Rottluff fand seine Motive nicht nur in der Natur, sondern auch in den ihm nahestehenden Menschen – er malte, was ihn umgab und berührte. Diese enge Verbindung zwischen Leben und Kunst zeigt sich besonders eindrücklich in Porträts seiner Freund*innen und Förder*innen – wie in »Bildnis R.S.« (1915), eines der unzähligen Porträts seiner langjährigen Unterstützerin, der Kunsthistorikerin Rosa Schapire.
1911 verlegte er als letztes Brücke-Mitglied seinen Wohnsitz nach Berlin, wo sich die Gruppe zwei Jahre später auflöste. In der Großstadt arbeitete Schmidt-Rottluff unermüdlich weiter und übersetzte kubistische und futuristische Einflüsse in scharfkantige Formen mit harten Farbkontrasten.
Der Erste Weltkrieg sowie eine Stationierung in Russland und Litauen unterbrachen seine künstlerische Arbeit. Erst 1919 widmete sich Schmidt-Rottluff wieder der Malerei. In den folgenden Jahren fand er zunehmend Anerkennung: Führende Kunstzeitschriften veröffentlichten Artikel, Museen erwarben seine Werke und der Kreis privater Sammler*innen wuchs. Schmidt-Rottluff nahm seine Sommeraufenthalte wieder auf und entdeckte mit seiner Frau Emy den kleinen Ort Jershöft (Jarosławiec) an der heutigen polnischen Ostseeküste. Nach den Kriegserlebnissen fokussierte er sich in Gemälden wie »Blauer Mond« (1920) auf die Natur und das Alltagsleben der Küstenregion.
Mit der Zeit veränderte sich seine Malweise: Die flächigen, kantigen Formen wichen einer gegenständlichen, realitätsnahen Gestaltung, ohne dabei den einfühlsamen Blick zu verlieren.
Die Zeit des Nationalsozialismus entwickelte sich für den expressionistischen Künstler zur Zerreißprobe: Die NS-Kulturpolitik verfemte seine Kunst. 1937 wurden Schmidt-Rottluffs Werke aus Museen beschlagnahmt und teilweise in der NS-Propagandaausstellung »Entartete Kunst« verhöhnt. Schmidt-Rottluff zog sich daraufhin zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück. Nur noch wenige Gemälde entstanden – Werke wie »Fischerbucht« (1937) zeigen vorwiegend menschenleere Landschaften. Schließlich erhielt er 1941 ein Berufsverbot. Zwei Jahre später wurde die Wohnung des Ehepaars Schmidt-Rottluff in Berlin zerstört – den Rest des Krieges verbrachten sie in Rottluff im Elternhaus des Künstlers. Erst nach Kriegsende kamen sie wieder zurück.
In den Stillleben der darauffolgenden Jahre malte Schmidt-Rottluff Objekte seiner Umgebung: Topfpflanzen, Geschirr oder endlich wieder verfügbare Lebensmittel, aber auch Dinge aus seiner privaten Sammlung. Diese Gegenstände setzte er formatfüllend ins Bild, verstärkte markante Formen und fügte farbige Schatten hinzu.
In den 1950er-Jahren nahm der Künstler seine regelmäßigen Besuche im sogenannten »Blauen Haus« Hanna Bekker vom Raths in Hofheim am Taunus wieder auf. Die Malerin und Sammlerin, eine seiner wichtigsten Förder*innen, kannte Schmidt-Rottluff bereits seit 1930. In ihrem Haus nahe Frankfurt am Main verbrachte er oft Frühling und Herbst. Hier entstanden zahlreiche Gemälde der umliegenden Landschaft sowie des täglichen Lebens, etwa das Selbstporträt »Im Atelier« (1950), das mit seiner reduzierten Formensprache und kraftvollen Farbgebung charakteristisch für sein Spätwerk ist.
Mit achtzig Jahren musste der Künstler 1964 das Arbeiten mit Öl aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Im selben Jahr initiierte er die Gründung eines Museums, das der Brücke-Künstlergruppe gewidmet sein sollte und überließ dem Land Berlin 75 Werke. Das Brücke-Museum wurde 1967 eröffnet. Fast zehn Jahre später, am 10. August 1976, starb Schmidt-Rottluff in Berlin.
Heute bewahrt das Brücke-Museum die größte Sammlung zu Schmidt-Rottluff und ist zudem Sitz der Karl und Emy Schmidt-Rottluff Stiftung, in deren Auftrag derzeit an einer Neufassung des Gemälde-Werkverzeichnisses des Künstlers gearbeitet wird. Im Zuge der großen Sammlungsschau werden auch Einblicke in diese Forschungsarbeit gegeben.
Schmidt-Rottluff verlieh im Zusammenspiel von intensiven Farben und bewusster Formvereinfachung seinen Werken eine emotionale Kraft, die bis heute spürbar ist.
Text: Luna Weis, Assistenzkuratorin und Projektleitung
»Immer wieder muss die Welt neu gesehen werden« – Malerei von Karl Schmidt-Rottluff
bis 15. Februar 2026
Brücke-Museum
bruecke-museum.de