Umkämpftes Terrain 

Johann Moritz Rugendas, »Brasilianischer Urwald«, 1830, GK I 4341 © Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Foto: Roland Handrick
Museumsjournal 4/25
Religiös verehrt, rücksichtslos ausgebeutet, ideologisch vereinnahmt oder ökologisch geschützt: Der Naturbegriff wandelt sich beständig

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog ein neues Wort ins Deutsche ein: Kindergarten. Es wurde in viele Sprachen auf der ganzen Welt übernommen. Geprägt hatte es Friedrich Fröbel, ein Pädagoge aus Thüringen. Die Idee für den Kindergarten, so die Anekdote, sei Fröbel während einer Wanderung durch den Thüringer Wald gekommen. 1840 gründete er den ersten Kindergarten in Bad Blankenburg, weitere folgten. 

Damit ist aber die Geschichte noch nicht zu Ende: 1851 verhängte Preußen ein Verbot des Kindergartens, zu revolutionär, zu atheistisch, lautete die Einschätzung des Berliner Ministeriums. Eine Gegenbewegung formierte sich. In Berlin engagierte sich federführend Lina Morgenstern. Die Tochter aus jüdischem Elternhaus träumte davon, dass im Kindergarten »die Kinder von Reich und Arm, von Vornehm und Gering, von Protestant, Katholik und Jude glücklich und gesegnet nebeneinander sein« können. Eine historische Abbildung zeigt Morgenstern in einem städtischen Garten, umringt von spielenden Kindern. Anders als der preußische Staat glaubten Morgenstern und Fröbel, dass die Natur die beste Lehrmeisterin für ein friedliches Miteinander wäre. Die Verfechter der Kindergarten-Idee setzten sich durch. 1860 wurde das Verbot aufgehoben. 

Was ist also gemeint, wenn von »Natur« die Rede ist? Diese Frage ist der Ausgangspunkt der Ausstellung »Natur und deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht«. Den Wandlungen des Naturbegriffs geht die Schau in 250 Objekten nach. Zu jeder Zeit nahmen die Vorstellungen davon, was als »Natur« gelten sollte, andere Gestalt an: auf Gemälden, Globen und Karten, in Büchern, Stichen, Modellen, Präparaten, Fotografien und Filmen, unter dem Mikroskop oder durchs Fernrohr. Regierungen sowie politische und religiöse Bewegungen haben im Spannungsfeld von Glaube, Biologie und Macht ihren Naturbegriff definiert – und für sich beansprucht.  

Wer die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) betritt, reist zu Beginn fast 900 Jahre in der Zeit zurück, zu den Werken Hildegard von Bingens. Die Nonne des Benediktinerordens gründete im 12. Jahrhundert ein Kloster auf dem Rupertsberg, an dessen Fuß Rhein und Nahe zusammenfließen. Die Äbtissin war eine der vielseitigsten Gelehrten ihrer Zeit: Von Bingen korrespondierte mit Kaiser und Päpsten, komponierte und dichtete, entwickelte eine Geheimsprache und erhielt als erste Frau in der abendländischen Geschichte die Erlaubnis des Papstes, ihre Visionen zu veröffentlichten.  

Im Zentrum ihrer Theologie stand die »Grünkraft«, lateinisch »viriditas«. Nach Hildegard von Bingen sollte sich der Mensch in den Dienst dieser Grünkraft stellen, um das Paradies wiederherzustellen, aus dem Adam und Eva vertrieben worden waren. Die Äbtissin wusste, wovon sie sprach: Zum Kloster Rupertsberg gehörten große Ländereien mit Weinbergen, Feldern und Gärten. In ihren heilkundlichen Schriften behandelte sie Hunderte von Pflanzen, Tieren und Mineralien. Die Natur konnte dabei helfen, Krankheiten vorzubeugen und zu heilen. Umgekehrt sollten die Menschen zur Gesundung der Natur beitragen. Von Bingen beklagte die Verschmutzung von Luft und Flüssen. »Natur« war für die Visionärin Schöpfung, vom Kosmos über alles Lebende bis zu Flüssen und Steinen.  

Die Werke Hildegard von Bingens bilden eine der Stationen, die in fünf Räumen Fenster in die Geschichte öffnen. Jedes dieser historischen Fenster gibt einen Einblick in Ereignisse oder Entwicklungen, bei denen der Naturbegriff in der deutschen Geschichte verändert oder geprägt wurde. War »Natur« im Mittelalter noch ein wenig gebräuchliches Fremdwort im Deutschen, nahm seine Verbreitung mit jedem Jahrhundert zu. Im 19. Jahrhundert stieg »Natur« zu einem Schlüsselbegriff politischer Bewegungen auf: Der berühmte Zoologe und Anhänger der Evolutionstheorie, Ernst Haeckel, benannte nicht ohne Hintersinn eine neue Art nach Reichskanzler Otto von Bismarck »Alacorys bismarckii«. Der mikroskopisch kleine Organismus aus der Gruppe der Strahlentierchen, auch Radiolarien genannt, war aus der Tiefe des westlichen Pazifik gefischt worden. Eine Station behandelt die Verbindungen zwischen Haeckel und Bismarck.  

In der Ausstellung rücken dabei unterschiedliche Landschaften in den Fokus: von den Kulturlandschaften des Mittelalters über die Fischfanggebiete des Bodensees bis zu den Lausitzer Tagebaulandschaften der DDR im 20. Jahrhundert. Der zum Mythos aufgestiegene deutsche Wald, dem 2011/12 die DHM-Ausstellung »Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald« gewidmet war, findet sich inmitten der vielfältigen Naturräume der deutschen Geschichte.   

Keine politische Bewegung in der deutschen Geschichte war dabei so besessen von der Idee, die Norm einer »deutschen Natur« zu schaffen, wie der Nationalsozialismus. Von 1933 an – auch diese Entwicklung thematisiert die Schau – wurden Bevölkerungen und Landschaften diesem ideologischen Naturbegriff mit brutalen Mitteln unterworfen.  

Die Ausstellung endet in den 1970erJahren: Die Bürgerinnen und Bürger aus der Umgebung von Wyhl protestierten gegen den Bau eines Atomkraftwerks und wurden zum Vorbild für politische Bewegungen von Japan bis in die USA. Gleichzeitig erhielt der »Umweltschutz« unter Hans-Dietrich Genscher eine erste eigene Abteilung im bundesdeutschen Innenministerium.  

Im Sinne der Nachhaltigkeit wurden möglichst viele Materialien aus früheren Ausstellungen bei der Gestaltung wiederverwendet. Die Mehrzahl der Objekte stammt aus den eigenen Sammlungen, die Transporte von Leihgaben wurden gebündelt.  

Die Ausstellung bietet Texte in Leichter Sprache, in Braille, in Deutscher Gebärdensprache und multisensorische, inklusive Stationen: Die Düfte einiger Pflanzen, deren Wirkkräfte Hildegard von Bingen beschrieb, werden etwa an Riechstationen erfahrbar gemacht, darunter auch die Rose. »Wer jähzornig ist, der nehme die Rose und weniger Salbei und zerreibe es zu Pulver«, riet Hildegard von Bingen, »denn der Salbei tröstet, die Rose erfreut 

 

Text Julia Voss, Kuratorin 

 

Natur und deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht 

14. November 2025 bis 7. Juni 2026

dhm.de 

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