Schätze aus der Schublade
Anhand von Entwürfen und unrealisierten Architekturzeichnungen wird eine alternative Baugeschichte der DDR sichtbar
Über die architektonischen Hinterlassenschaften der DDR wird auch 35 Jahre nach dem politischen Ende des ostdeutschen Staates mit kaum nachlassender Vehemenz gestritten. Immerhin haben seriöse Forschungen das historische Feld inzwischen abgesteckt. An Monografien wichtiger Akteure fehlt es ebenso wenig wie an Wertschätzungen ikonischer Einzelbauten. Ob das neue Gewandhaus in Leipzig, der Kulturpalast in Dresden, der Teepott in Warnemünde, der Palast der Republik oder das postmoderne Nikolaiviertel in Berlin – anhand vieler solcher Schlüsselwerke ließe sich die vierzigjährige Architekturentwicklung zwischen Ostsee und Thüringer Wald anschaulich darstellen.
Doch um ein einfaches Illustrieren der DDR-Baugeschichte soll es diesmal nicht gehen. Die Ausstellung »Pläne und Träume – Gezeichnet in der DDR« stellt die Macher von Architektur in den Mittelpunkt, fragt nach ihren Motiven, Visionen, auch Enttäuschungen. Jahr für Jahr von den Baufakultäten in Dresden, Weimar und Berlin kommend, stießen junge Architektinnen und Architekten mit ihren hochgesteckten Zielen auf eine Berufspraxis, in der kreatives Entwerfen immer häufiger zugunsten radikal technisierter Bauprozesse zurückstehen musste. Statt um architektonische Ideen ging es eher um Produktionsabläufe und reduzierten Materialaufwand. Plattenwerke bestimmten Tempo und Menge der zu liefernden Wohnungen, Kranbahnen die räumlichen Muster der Wohnkomplexe. Vom immergleichen Schema abweichende »Sonderbauten« waren rar gesät.
Aber anders als die unter solch misslichen Bedingungen entstandenen Typenbauten vermuten ließen, schlummert in den Archiven und privaten Mappen einstiger DDR-Architektinnen und Architekten noch eine weitere, überraschende Bilderwelt. Beim Stöbern in den Zeichenschränken kamen immer wieder nie gesehene Entwürfe ans Licht, nichtprämierte Wettbewerbsbeiträge, flotte Vorstudien oder atemberaubende Alternativen für schließlich völlig anders realisierte Bauten. Solche wild skizzierten, verworfenen oder aus anderen Gründen Papier gebliebenen Projektideen fügen dem verfestigten Bilderkanon der DDR-Architektur unerwartete Facetten hinzu.
Und dann geht es auch um das Zeichnen als Freizeitgenuss, diese unter Architektinnen und Architekten weltweit anzutreffende Passion. Das Fach Freihandzeichnen wurde im Architekturstudium der DDR intensiv gepflegt. Nicht wenige haben sich mit Kreide, Stift und Pinsel vom Stress oder der Routine des Büroalltags erholt. Deshalb wird das Thema »Architekten zeichnen« hier von zwei Seiten beleuchtet: Entwurfszeichnungen, die auf konkrete Bauaufgaben zielen, stehen privaten, nach Feierabend oder auf Reisen entstandenen Impressionen gegenüber, die oft von ganz anderem erzählen, von Träumen, utopischen Hoffnungen, auch tröstlicher Selbstvergewisserung. Unter dem Motto »Pläne und Träume« geben nicht die üblichen klangvollen Namen den Ton an, sondern es geht um den ewigen Spagat der Profession – um die Spannung zwischen Auftragsbildern und Wunschproduktion.
Der kuratorischen Entscheidung, bei der Materialrecherche bekannte Vorzeigeobjekte bewusst zu umgehen, lag die Absicht zugrunde, Architekturarbeit einmal nicht als Triumph der genialen Idee, sondern als Prozess voller Zweifel und Widersprüche zu zeigen. Hier soll jener kostbare Moment Aufmerksamkeit finden, der als die Geburtsstunde eines jeden Bauwerks gelten darf: der Entwurf. Kein Medium erlaubt einen besseren Zugang zu den kreativen Wurzeln des Architekturschaffens als eben die Zeichnung – als Bauplan, als Wettbewerbseinreichung, als legendäre erste Skizze auf einem Fetzen Papier. Dabei soll der ungeheure Reichtum an Inspirationen, an Sachkenntnis und Phantasie gewürdigt werden, der in jedem Entwurfsschritt steckt. Ein Reichtum, der unvermeidlich verschwendet wird, denn von den vielen durchgespielten Ideen schafft es ja, wenn überhaupt, am Ende nur eine in die Realität. Da sind es dann häufig die zurückgelassenen Zeichnungen, an denen einzelne Entwurfsschritte ablesbar werden, all das Ephemere und Vorläufige. Der unsichtbare Kontext einer Baukultur, deren eigentlicher geistiger Reichtum.
So soll die Vielfalt der hier zu Papier gebrachten Ideen auch das Klischee vom grauen und langweiligen Osten widerlegen. Gleich im ersten Jahr der deutschen Einheit hatte ein einflussreiches Architekturmagazin aus dem Westen dem Beitrittsgebiet eine »Architektur ohne Architekten« unterstellt, ein Vorurteil, an dem sich in der breiten Öffentlichkeit auch nach 35 Jahren offenbar nur wenig geändert hat. Ein so hartnäckiges Negativimage wird man mit einer Ausstellung nicht einfach abwenden, aber zumindest einen Versuch sollte es immer wieder wert sein.
Zu guter Letzt möchte diese Ausstellung auch ein Bilderfest sein. Eine Versammlung staunenswerter Zeugnisse, die ein Land in Erinnerung ruft, das es nicht mehr gibt. Auf Transparentrollen und Zeichenkarton haben sich Spuren einer Kultur erhalten, von deren Zeitgeist und Lebensart, von deren Gewohnheiten, Werten, Sehnsüchten und Visionen jede authentische Vorstellung bald völlig verschwunden sein wird. Das Projekt »Pläne und Träume« beruht entscheidend auf Sammlungsbeständen des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner. Wichtige Exponate wurden von der Berlinischen Galerie, der Bauhaus-Universität Weimar, der Stiftung Sächsischer Architekten in Dresden und dem Leipziger Stadtarchiv beigesteuert. Darüber hinaus ist viel Material im Land verstreut und wird von Denkmalämtern, Stiftungen, lokalen Museen und Archiven verwahrt. In privaten Schränken und Regalen harren noch zahllose Schätze ihrer Entdeckung.
Text – Wolfgang Kil, Co-Kurator und Architekturkritiker
Pläne und Träume – Gezeichnet in der DDR
bis 7. September 2025
Tchoban Foundation, Museum für Architekturzeichnung
tchoban-foundation.de