Rhythmische Arithmetik
Rhythmische Arithmetik
Aus dem Spiel mit Systematik, Varianz und Unterbrechungen schöpfte HORST BARTNIG seine geometrisch-mathematischen Bilder
Das Mies van der Rohe Haus widmet dem 2025 verstorbenen Künstler Horst Bartnig eine sorgfältig komponierte Auswahl aus seinem Nachlass, die Einblicke in das Werk eines der bedeutendsten Vertreter konstruktiver Kunst in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland gibt. Die Schau vereint Arbeiten aus sechs Jahrzehnten – von den frühen, noch tastenden Schritten der Abstraktion bis zu den späten, hochkomplexen Systemen von Form, Farbe und Struktur. Für Bartnig war das kleine Haus am Obersee über Jahrzehnte ein vertrauter Ort: 1994 und 2003 präsentierte er hier zwei Einzelausstellungen. Mit der Retrospektive knüpft das Haus an diese enge Verbindung an. In der Intimität der drei Räume entfaltet sich eine konzentrierte Schau, die Werk und Denkweise Bartnigs anhand von Arbeiten aus dem Nachlass erfahrbar macht. Ein Nachlass ist stets mehr als künstlerische Hinterlassenschaft – er trägt die Aura des Schöpferischen in sich und erlaubt, Werke zu zeigen, die den Künstler jahrzehntelang umgeben haben. Die Ausstellung legt den Fokus auf drei zentrale Werkgruppen: die »Quadratbilder«, »Variationen« und »Unterbrechungen“, ergänzt durch frühe Arbeiten, die erstmals öffentlich gezeigt werden.
Horst Bartnig wurde 1936 in Militsch, Schlesien, geboren. Nach einer Malerlehre studierte er ab 1954 Bühnenmalerei an der Fachschule für angewandte Kunst in Magdeburg. Das intensive Naturstudium weckte in ihm Zweifel an der gegenständlichen Malerei. In den 1960er-Jahren löste sich Bartnig Schritt für Schritt von der realistischen Ästhetik. Sein Freund, der Bühnenbildner Achim Freyer, bestärkte ihn darin, die Gegenständlichkeit hinter sich zu lassen. 1964 wandte sich Bartnig schließlich voll und ganz der konkreten Kunst zu. Später nannte er diesen Moment eine persönliche Befreiung.
Im selben Jahr fiel ihm der elfte Band der Bauhausbücher, Kasimir Malewitschs »Die gegenstandslose Welt« (1927), in die Hände, in dem Malewitsch seine »Theorie des additionalen Elementes der Malerei« entwickelt. Diese Lektüre prägte Bartnigs Auseinandersetzung mit mathematischen und systematischen Formfragen und ließ ihn Gestaltung als Denkprozess begreifen.
Die Ausstellung zeigt die frühe Beschäftigung des Künstlers mit Erweiterbarkeit bis hin zu komplexen Variationen. Die »Variationen« sind potenziell unendliche Kombinationen geometrischer Formen, in denen bald auch Farbe als aktivierendes Element hinzutritt. In der Wiederholung gleicher Strukturen wird die Veränderung der Farbe zum eigentlichen Bewegungsmoment: »Das Bild wird zum Instrument des Sehens«, so Bartnig.
Ab den 1970er-Jahren arbeitete Bartnig interdisziplinär mit Mathematikern und Physikern zusammen. Mit dem Physiker Paul Koch entwickelte er ein arithmetisches System, das alle Variationen von Form und Farbe berechenbar machte. 1979 nutzten sie erstmals den sowjetischen Großrechner BESM-6 am Zentralinstitut für Informatik und Rechentechnik in Berlin-Adlershof. Die computergenerierten Grafiken wurden für Bartnig zur Grundlage für zahlreiche Gemälde. Doch ging es ihm nie um die Visualisierung mathematischer Gesetze – er wollte den Betrachter durch eine Kunst, die Denken und Sehen gleichermaßen fordert, aktivieren. Mit bemerkenswerter Konsequenz entwickelte er sein Werk unter den kulturpolitischen Bedingungen der DDR kontinuierlich weiter.
1987 kam es für Bartnig zu entscheidenden Begegnungen: Auf einer Auslandsreise des Deutschen Theaters, wo er als Bühnenmaler tätig war, traf er in Zürich Richard Paul Lohse, dessen Werk und Haltung prägend für ihn waren. Auch Max Bill begegnete er mehrfach persönlich, so 1994, anlässlich dessen Ausstellung im Mies van der Rohe Haus. Bartnigs Werk stand den Schweizer Konkreten inhaltlich nah, doch blieb seine Rezeption infolge der kulturellen und institutionellen Bedingungen der DDR weitgehend beschränkt. Dennoch arbeitete Bartnig unbeirrt an denselben Fragen: Bills Ideen zur »mathematischen Denkweise in der Kunst unserer Zeit« fanden in Bartnigs Werk eine klare Entsprechung: »Meine Malerei gehört in den Bereich des Denkens.«
Seit Mitte der 1980er-Jahre entstanden Bartnings zweite große Werkgruppe, die »Unterbrechungen«. Diese Arbeiten – feine, computergestützte Drucke oder Gemälde aus streng vertikal gesetzten Linien, die durch rhythmische Leerstellen gebrochen sind – zeigen den Übergang von Ordnung und Struktur zu Bewegung. Das Auge folgt den Linien, stolpert über die Unterbrechungen und wird so Teil des künstlerischen Prozesses. Die Leerstelle, vergleichbar mit der Pause in Musik, erhält eine gewichtige Präsenz. Wo in den »Variationen« die Systematik dominiert, öffnet sich hier der Raum des Rhythmischen.
Bartnig war dem Mies van der Rohe Haus eng verbunden. In der ersten Ausstellung 1994 zeigte er seine »Variationen 70 → 1 → 70« (1993), bestehend aus 70 Leinwänden à 50 × 50 cm, die nicht wie üblich als zusammenhängendes System präsentiert, sondern im gesamten Haus verteilt waren – eine Installation, die das Gebäude zum Teil des Werks machte. Nachdem das Haus Lemke 2003 nach Originalplänen Mies van der Rohes aufwändig saniert worden war , schuf Bartnig eigens für die Räume neue »Unterbrechungen«. Über Jahrzehnte blieb Bartnig dem Haus am Obersee als Künstler, Denker und Freund verbunden.
Drei Jahrzehnte später kehren ausgewählte Arbeiten aus Bartnigs Nachlass, die exemplarisch für sein Frühwerk und die zentralen Werkgruppen seines Œuvres sind, an jenen Ort zurück, dessen klare Architektursprache sein Denken geprägt hat. Das Mies van der Rohe Haus wird erneut zum Resonanzraum seines Werks – als Ort des Denkens, der Wahrnehmung und der konkreten Kunst.
Text: Zsófia Kelm, Kuratorin und Programmleiterin
Hommage an Horst Bartnig (1936–2025) – Ausgewählte Werke aus dem Nachlass
bis 15. März 2026
Mies van der Rohe Haus Berlin
www.miesvanderrohehaus.de