Realismus für unwirkliche Zeiten

Sigmar Polke, »Flüchtende«, 1992
Carré d’Art-Musée d’Art Contemporain, Nîmes; Foto: David Hugenin © The Estate of Sigmar Polke/VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Museumsjournal 4/24
Sigmar Polke war ein Meister der Ironie und praktizierte das lustvolle Spiel mit der Wahrnehmung

Sigmar Polke (1941–2010) gehört zu den wichtigsten Erneuerern der Gegenwartskunst. Ihm wurden zahlreiche Ausstellungen gewidmet. Diesmal jedoch ist es interessant, Polke nicht in einem Museum, sondern im Schinkel Pavillon mit seinem betont jungen, am Zeitgeist orientierten Publikum neu zu entdecken.

Sein Werk hat nichts an Aktualität eingebüßt. Präsentiert wird hier ein Realist in einer Zeit, in der die Medien sich täglich darin überbieten, eine verflüssigte, halluzinierende Vision der Wirklichkeit vorzugaukeln. Polke ist ein Künstler, der in seinen Werken die Reibung mit dem Zeitgeist und den gesellschaftlichen, politischen Veränderungen mit Haut und Haar gesucht hat. Davon zeugen in dieser Ausstellung nicht nur seine Malerei, sondern auch seine Fotografien aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Gleichermaßen geben Filmdokumente sowohl von ihm als auch von seinen damaligen künstlerischen und wohngemeinschaftlichen Mitspielern und Mitspielerinnen Einblick in den ganz speziellen mentalen Humus jener Zeit.

Der im Titel zitierte »Heimische Waldboden« nimmt ironisch Bezug auf die von der deutschen Nachkriegsgeschichte geprägte Biografie des Künstlers. 1963, am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn, verkündete der damals 22-Jährige, gemeinsam mit Manfred Kuttner, Konrad Lueg und Gerhard Richter, den »kapitalistischen Realismus« als Antwort auf die damals in der DDR produzierte Kunst und als ein Bekenntnis zu dem, was später deutsche Pop Art genannt wurde.

1968 publizierte die Berliner Galerie von René Block Polkes Mappe »Höhere Wesen befehlen« mit 14 Drucken, in welchen der Künstler posiert: nur mit Unterhose bekleidet als Palme oder als sein eigener Doppelgänger. Es sind Aktionen, die unschwer als humoristisch clevere Kommentare zur damaligen Ernsthaftigkeit der Kunstszene zu erkennen sind – seien sie abstrakt, modern oder konzeptuell. Polke führte die Ironie als entwaffnendes Element ein, das allem aufgeblasen ehrfürchtig Säuselnden schnell die Luft ablässt.

Seine Malerei weist das Punktraster der Printmedien als charakteristische Konstante auf, wodurch sein Werk konsequent in der Realität verankert ist. Dies erlaubte ihm auch seine späteren, weit ausholenden Ausschweifungen in vormoderne Vorstellungswelten, ohne dabei den Gegenwartsbezug aus den Augen zu verlieren. Das Bild »Dr. Bonn« von 1978 ist ganz auf die Stimmung des bleiernen Herbstes der 1970er-Jahre ausgerichtet: Ein Beamter mit aus- gelöschtem Gesicht sitzt vor seinem Pult und versucht, mit einer Steinschleuder Selbstmord zu begehen. An der Wand vor ihm hängen die Gesichter von zwei RAF-Mitgliedern. Die Szene ist nicht etwa auf Leinwand gemalt, sondern auf einen gemütlich anmutenden karierten Stoff, der wie von einem kalten, schneeweißen Scheinwerferkegel angeleuchtet geradezu durchbohrt wird.

Polke hat in seiner Malerei immer wieder den Bildgrund selbst thematisiert – oder, wenn man so will, diesen als Protagonisten prominent in seine Gemälde eingeladen. So spielen industriell hergestellte Dekostoffe eine wichtige Rolle. Sie können auch von metallenen Glitzerfäden durchwirkt oder als Vorhangstoff mit Lack traktiert worden sein, um sie noch transparenter zu machen, damit das Chassis des Keilrahmens sichtbar wird. Der Malprozess wird vielfach dekonstruiert, alle Konventionen werden mehrfach hinterfragt, um nochmals die Übertretung zu feiern. In dem großformatigen Bild »Gangster« (1988) zeigt ein grinsender, Zigarre rauchender Mann das Innere seines Mantels, wo im Futter (pornografische?) Bilder eingenäht sind. Und wir stehen davor und staunen über den selbst- ironischen Witz eines Künstlers, der auch viel über die (gottgleiche) Rolle des Schöpfers von Bildern nachgedacht hat.

Die Freiheit im Denken und Planen, die Lust am Zugriff auf verblüffende Ergebnisse und Entdeckungen, an welchen er das Publikum quasi beim Machen teilnehmen lässt, spiegelt sich auch beim Malen wider. Einerseits exerzierte Polke einen anachronistisch langsamen Arbeitsprozess, wenn er Abermillionen von Rasterpunkten in all den ruhigen Stunden von Hand auf den Bildgrund malte. Andererseits praktizierte er im krassen Gegensatz dazu auch den »Splash«, das kübelweise Hinschütten von flüssiger Farbe, oder das großzügige Streuen von kostbaren ungebundenen Pigmenten wie Malachit oder dem giftigen, arsenhaltigen Schweinfurter Grün. Dabei war immer klar, dass es ihm nicht um die gestische Gestaltung ging, die einer Vorstellung von Virtuosität oder Bravour entsprochen hätte. Viel eher stand schlicht das wundersame Ausbreiten, Darlegen, Veranschaulichen der Farbe sowie deren Materialität und zeitgeschichtliche Aura im Vordergrund.

Ist die Betrachtung des schon seit 6000 Jahren in fernen Ländern abgebauten Pigments und Edelsteins Lapislazuli mit Gedanken verbunden, die sich um Kriterien drehen wie kolonial oder postkolonial? Hat die monochrome Farbe ihre Autonomie oder ist es im Gegenteil eine bebende, tanzende Chromie mit Abgründen und Wellenschlag? Und hier erscheint der Künstler nun in der Rolle des Ermöglichers, der etwas zum Schauen und Entdecken anbietet, das so noch nie zu sehen war – in seiner ganzen unvergänglichen Aktualität.

Text – Bice Curiger, Kuratorin

»Sigmar Polke. Der heimische Waldboden. Höhere Wesen befahlen: Polke zeigen!«

bis 2. Februar 2025

Schinkel Pavillon

schinkelpavillon.de

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