Magische Farbenpracht
Ägypten blickt auf eine jahrtausendealte Webkunsttradition zurück. Der Nachwuchs erlernt die bis heute unveränderte Technik im Vertrauen auf die Kraft der Kreativität.
Nach fast 50 Jahren kehrt die Wunderwelt der Bildteppiche und Batiken des Ramses-Wissa-Wassef-Art-Center nach Berlin zurück. Damals, im Jahr 1978 wurden die Tapisserien am Standort des Ägyptischen Museums in Charlottenburg gezeigt – in diesem Jahr werden sie die obere Etage der James-Simon-Galerie mit ihrer Farbenpracht bereichern.
Die Geschichte der Ramses-Wissa-Wassef-Art-School ist einzigartig in Ägypten und begann – nach einigen schulischen Experimenten in Alt-Kairo in – mit der Gründung des Zentrums in Harrania, einem Vorort von Kairo nahe den Pyramiden von Gizeh, in den Jahren 1951 und 1952.
Auf einem großen Grundstück entstand dort nach Bauplänen des Architekten, Bildhauers, Töpfers, Webers und Designers Ramses Wissa Wassef (1911–1974) ein in traditioneller Lehmziegel-Architektur gebauter Werkstatt- und Wohnhauskomplex, der im Jahr 1983 mit dem »Aga Khan Architectural Award« ausgezeichnet wurde. Im Laufe der Erfolgsgeschichte dieses Kunstzentrums konnte im Jahr 1989 auch ein Museumsbau eröffnet werden, der dem interessierten Publikum eine Auswahl der aktuellen Werke präsentiert.
Um die Einzigartigkeit dieses Kunst- und Werkzentrums würdigen zu können, gilt es, sich den Ansatz seines Gründers vor Augen zu führen, der davon überzeugt war, dass jeder Mensch mit den Fähigkeiten, Kunst zu schaffen geboren wird, dass aber die Einflussnahme von außen diese Grundtalente sehr schnell überformt. Daher sollten in seinen Werkstätten, begleitend zur Schulbildung, aber ohne deren Einfluss, traditionelle Handwerkskünste, die allmählich drohten, in Vergessenheit zu geraten, wiederbelebt werden. Er wollte Kindern aus den umliegenden Dörfern in den 1960er-Jahren die Gelegenheit bieten, sich frei künstlerisch zu entfalten und wählte für diesen kreativen Prozess die Webkunst aus. Die dem Webprozess innewohnende »Langsamkeit« bot für Ramses Wissa Wassef die ideale Voraussetzung, kreatives Schaffen ohne Vorlagen in ein Bild umzusetzen. Ohne formale Ausbildung oder künstlerisches Training wurden die Schülerinnen und Schüler von Harrania in die Kunst dieses alten Handwerks eingeführt, das mit unveränderter Technik auf eine jahrtausendealte Tradition im Land am Nil zurückblicken kann. Bis heute werden die Tapisserien auf handgefertigten Webstühlen mit natürlich gefärbter Wolle und Baumwolle angefertigt und an einem Stück, ohne jegliche Skizzen oder Aufzeichnungen, gewebt. Selbst komplexe Stücke, die viele Monate Arbeit in Anspruch nehmen, sind direkt am Webstuhl komponiert und von den Eindrücken des ägyptischen Alltagslebens inspiriert.
Es war der dezidierte Wunsch von Ramses Wissa Wassef, den Jugendlichen in der geschützten Umgebung des Ateliers den Raum zu bieten, der ihrer Fantasie vollkommen freien Lauf ließ. Seine drei Regeln lauteten: Erstens durfte es keine Vorzeichnungen oder vorgefertigten Vorlagen geben, denn diese hätten den künstlerischen Prozess in zwei Schritte zerlegt. Zweitens sollte die Schaffensphase nicht von außen ästhetisch beeinflusst sein, weshalb er mit den Jugendlichen auch keine Museen oder Galerien besuchte, deren Werke eventuell zur Imitation verführt hätten. Drittens durften die Werke nicht durch Einmischung von außen, zum Beispiel von Lehrern, kritisiert oder beeinflusst werden. Diese Freiheit half den jungen Weberinnen und Webern, Selbstvertrauen zu entwickeln und ihre Persönlichkeit zu entfalten, indem sie ausschließlich auf die eigene Vorstellungskraft zurückgriffen. Viele von ihnen arbeiten weiterhin im Kunstzentrum und haben sich zu Künstlerinnen und Künstlern mit einem ausgeprägt eigenen Stil entwickelt.
Im Jahr 1965 wurde die Technik der Batik als weiteres Handwerk im Kunstzentrum eingeführt. Mit diesem Verfahren wollte Ramses Wissa Wassef zeigen, dass der Kreativität auch in anderen Medien keine Grenzen gesetzt sind. Batik ist zwar auch ein traditionelles Textilfärbeverfahren, bei dem Wachs zum Abdecken von Mustern verwendet wird, bevor der Stoff in Farbbäder getaucht wird, gehört aber nicht zu den genuinen Werkverfahren in Ägypten. Nur für die Batiken verwendet das Kunstzentrum synthetische Farben. Die Farben für die Woll- und Bauwollteppiche basieren vollkommen auf natürlichen Rohstoffen, wobei die benötigten Pflanzen, wie zum Beispiel Reseda luteola, auf dem eigenen Grundstück gezogen und geerntet werden.
Zahlreiche Kunstwerke des Wissa-Wassef-Art-Center befinden sich heute in bedeutenden Kunstmuseen der Welt, so etwa im Metropolitan Museum of Art in New York, im British Museum London oder im Victoria and Albert Museum London.
Die Berliner Ausstellung, die Werke der zweiten und dritten Generation von Künstlerinnen und Künstlern zeigt, entführt in den farbenfrohen Alltag des heutigen Ägyptens, erzählt die Geschichten hinter den »gewebten Fäden des Lebens« und präsentiert die einzigartigen Techniken dieser Webkunst.
Text – Friederike Seyfried, Kuratorin
11. April bis 2. November 2025
James-Simon-Galerie