Laut, politisch und unbequem

Helga Goetze »Meine eigene Gescichte«, 1984

HELGA GOETZE demonstrierte für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau und trug ihre pazifistische, feministische Kunst in den Berliner Stadtraum

Im West-Berlin der 1980er-Jahre war Helga Goetze eine Berühmtheit: Fast täglich war sie auf dem Breitscheidplatz anzutreffen, wo sie lautstark und ungefragt ihre Botschaften verbreitete, am bekanntesten: »Ficken ist Frieden.« Mit Stickarbeiten und Parolen, in Gedichten und Gesängen folgte sie ihrer utopischen Überzeugung, die sexuelle Befreiung der Gesellschaft würde die Welt besser und friedlicher machen. Vehemenz und Ausdauer begleiteten ihre Positionierung. »Ich störe gerne«, sagte sie über sich selbst. Von der Polizei mit Platzverweisen belegt, von feministischen Gruppen oft abgelehnt, eroberte sie sich dennoch beharrlich ihren Platz in der Inselstadt. 1983 schrieb die feministische Zeitschrift »Courage« über die damals 61-Jährige: »Eine Annäherung an Helga Goetze scheint auf den ersten Blick unmöglich.« Dennoch wurde ein Interview mit Goetze veröffentlicht, die an der Gedächtniskirche »als ältere Frau auf der Straße steht und jedem/jeder das Wort ›Ficken‹ wohlartikuliert um die Ohren schreit«. Mit ihren provokanten Aktionen war Goetze eine unübersehbare und gleichzeitig oft genug umgangene Figur im Stadtbild. Die Ausstellung in der Villa Oppenheim eröffnet verschiedene Zugänge zu einer Person, die sich keiner Bewegung, keiner Kunstszene und keiner Generation vollständig zuordnen lässt. Die Irritationen und Verunsicherungen, die Goetze mit ihrer Präsenz auslöste, bilden den Ausgangspunkt.

Helga Goetze »Meine eigene Gescichte«, 1984

»Weibliches Wesen, geistig vielseitig interessiert, sucht«: Der Ausstellungstitel gibt den Text der Anzeigen wieder, die Goetze auf der Suche nach Männerbekanntschaften in Zeitungen und Zeitschriften aufgab. Bei ihrem ersten großen TV-Auftritt 1973 erklärte sie dem Publikum, wie sie nach einem »sexuellen Erweckungserlebnis« ihr Leben radikal geändert hatte. Ihr Eintreten für ein enttabuisiertes weibliches Begehren, mit dem sie selbstbewusst die Rollenzuschreibungen als Hausfrau, Ehefrau und Mutter zurückwies, fand ein großes mediales Echo. Nach dem Bruch mit ihrer Familie zog sie 1978 nach West-Berlin, dem Ort der politischen Experimente und der subkulturellen Nischen – zunächst nach Kreuzberg, dann nach Charlottenburg, wo sie ihre Wohnung in der Schlüterstraße 70 zur »geni(t)alen Universität« erklärte. Hier entwickelte sie ihre künstlerischen Ausdrucksformen, stickte und dichtete, korrespondierte und dokumentierte ihr Leben und ihre Lektüren. Von hier aus brach sie fast täglich zu ihren Mahnwachen auf und machte sich einen Namen als »unvermeidlicher Störfaktor«. Anfangs suchte sie wechselnde Orte auf, an denen Menschen zusammenkamen – Trödelmärkte, Heimspiele der Hertha, politische Kundgebungen. Ab 1983 eroberte sie ihren Platz an der Gedächtniskirche, den sie bis ins Alter besetzte. An guten Tagen bewegte sie sich »wie eine Königin durch den Kudammrummel«, hielt sie in ihren Aufzeichnungen fest. Nach ihrem Tod im Jahr 2008 setzte sich ihr Freundeskreis für die Übergabe des schriftlichen Nachlasses an das FFBIZ – das feministische Archiv ein. Die Helga-Goetze-Stiftung im Stadtmuseum Berlin bewahrt ihren künstlerischen Nachlass. Beide Einrichtungen haben die aktuelle Präsentation mit Leihgaben ermöglicht.

Die Ausstellung greift Goetzes Wirkung als bewusste Störung und Sichtbarmachung gesellschaftlicher Normen auf und lotet die politischen und künstlerischen Spielräume dieses Störgefühls aus. Goetzes Werke durchkreuzen die Säle der historischen Kunstsammlung Charlottenburg mit ihren Werken des 19. Jahrhunderts und der Berliner Secession. Die Autodidaktin stickte, um sich künstlerisch auszudrücken und ihre sexuelle Selbstbestimmung zu feiern. Wurden textile Handarbeiten traditionell mit Weiblichkeit verknüpft und die Stickerin mit bürgerlichen Idealen von Sittsamkeit, zeigen Goetzes Stickarbeiten stattdessen lustvolle Welten. Während ihrer Mahnwachen trat sie in bestickter Kleidung auf und arbeitete an neuen Werken, womit sie heute Bewegungen nahesteht, die textile Praktiken politisch neu besetzen und für feministische Raumaneignungen nutzen.

Auch in ihrem Aktivismus blieb Goetze Einzelkämpferin und bahnte sich einen eigenen Weg im Kampf für sexuelle Befreiung. Dass dieser auch den Rahmen der Frauen-Sommer-Universitäten sprengte, die der Neuen Frauenbewegung eine wichtige Plattform boten, brachte Ärger für die »primäre Tabubrecherin«, wie sie sich selbst sah. Die Neuinterpretation einer Helga-Goetze-Weste durch das Kunstkollektiv Threads&Tits bildet den Ausgangspunkt in einer Videoinstallation von Poligonal. Darin positionieren sich die Künstler:innen und Theoretiker:innen Adrian Blount, Zuzanna Czebatul, Simon(e) van Saarloos, Liz Rosenfeld, Jimmy Robert und Veronika Springmann zu Goetzes Vermächtnis und verhandeln Progressivität und Provokation, Humor, Ambiguität und Normativität ihres Schaffens.

 

Text: Heike Hartmann, Museumsleitung

 

Weibliches Wesen, geistig vielseitig interessiert, sucht – Helga Goetze
bis 15. März 2026
Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim
villa-oppenheim-berlin.de

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