Kurz vorm Kippen in den Abgrund

Alexander Kanoldt, "Porträt der Tochter Angelina", Detail, 1953
© Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Foto: Andres Kilger
Museumsjournal 1/25
Baudelaire bereitet der modernen Literatur den Weg. Aber auch in der bildenden Kunst entfalteten seine »Blumen des Bösen« ihre Wirkung.

»O Satan, erbarme meines langen Elends dich! Stab der Verbannten, Lampe der Erfinder, Beichtiger der Gehenkten und der Verschwörer, o Satan erbarme meines langen Elends dich!«, heißt es in den 1857 erstmals erschienenen »Fleurs du mal« von Charles Baudelaire (1821–1867). Wegen »Beleidigung der öffentlichen Moral« verboten (1861 erschien eine bereinigte Zweitausgabe), gehört der Gedichtband heute zu den Wegbereitern der Moderne und den Inkunabeln der Weltliteratur. Nicht nur in Deutschland durch unzählige Übersetzungen bekannt – angefangen mit den Übertragungen ausgewählter Gedichte von Stefan George bis hin zu der unlängst erschienenen Übersetzung von Simon Werle –, entfalteten »Die Blumen des Bösen« ihre Wirkung auch in der Kunst.

Noch zu Lebzeiten des Dichters schuf Félicien Rops (1833–98), mit dem sich Baudelaire gegen Ende seines Lebens in Belgien befreundete, das berühmte Frontispiz für die belgische Ausgabe der in Frankreich verbotenen Gedichte »Les Epaves« (Strandgut) von 1866. Im Zentrum erscheint der zum Skelett mutierte Baum der Erkenntnis, umgeben von Pflanzen, die die sieben Todsünden symbolisieren. Darüber hält eine dunkle Chimäre das Medaillon Baudelaires in die Höhe, während unten ein Pegasus-Skelett kauert, an dem ein Schild lehnt, das die Sünden in ihr Gegenteil verkehrt: Der Strauß mit einem Hufeisen im Schnabel steht alten Emblembüchern zufolge für die Tugend, worauf auch die Inschrift verweist: »Virtus durissima coquit« (Die Tugend erweicht auch das Härteste) – eine offene Kampferklärung gegen die »harten« Zumutungen der Realität. Auch für das weitere Schaffen von Rops spielte die Auseinandersetzung mit den Gedichten und den ästhetischen Schriften von Baudelaire eine entscheidende Rolle, wie nicht zuletzt Beispiele aus seiner Serie mit »satanischen« Bildern belegt.

Einen ähnlich starken Einfluss übte Baudelaire auf den symbolistischen Maler Odilon Redon (1840–1916) aus. Auch wenn dieser den Dichter nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, fand er zumindest Kontakt zu ehemaligen Freunden Baudelaires, dem er sich seelenverwandt fühlte. Neben den neun Illustrationen zu den »Fleurs du mal« von 1890 scheint sich nicht zuletzt das Motiv des abgeschnittenen Kopfes, dem Redon mehrere Bilder widmete, einer Idee Baudelaires zu verdanken. Darüber hinaus entstand eine bis heute nicht abreißende Vielzahl von Gemälden und Grafiken, Fotografien und ganzen Installationen von Künstlern, die ihre Werke nach dem Baudelaire’schen Buchtitel benennen. Anders als die guten Blumen scheinen die bösen nie zu verwelken.

So ist in der Ausstellung das gleichnamige Gemälde des belgischen Symbolisten Eugène Laermans (1864–1940) zu sehen, welches sich auf Baudelaires Verehrung für alte Frauen bezieht, oder das ebenfalls »Fleurs du mal« betitelte, 1922–24 entstandene Gemälde der früheren Dada-Künstlerin Hannah Höch (1902–72). Mit seinen sonderbar eckigen Formen scheint es sich einer gegenständlichen Deutung eher zu entziehen, bis man in der Mitte einen seitlich gezeigten Stuhl erkennt, um den sich verschiedene krückenartige Wesen scharen, ihre Blumenköpfe wie aus Holz, als seien es Einrichtungsgegenstände. Ein jüngeres Beispiel für Bildfindungen in der Spur Baudelaires ist ein Foto aus der Serie von Moritz Wehrmann (»Fleurs du mal« von 2012): Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise nahm er mit einer speziellen Blitztechnik verrottende Blumengestecke aus Kunststoff auf, deren ausgestreckte Blütenarme vor dunklem Hintergrund wie geheimnisvolle Wesen wirken.

Der Ausgangspunkt der Ausstellung ist jedoch ein doppelter: Denn es geht nicht allein um bildliche Übersetzungen oder direkte Illustrationen der Gedichte Baudelaires, sondern grundsätzlicher und weniger ikonografisch gebändigt darum, jenem unheimlichen Kippen des Kunstschönen ins Abgründige nachzuspüren, was nicht zuletzt ein Kernanliegen des Surrealismus ist. Das Auseinandertreten der beiden thematischen Stränge lässt sich anhand zweier Werke von Odilon Redon und Arnulf Rainer nachvollziehen: zum einen Redons um 1890 entstandene Kohlezeichnung »Fleur du mal« (Blume des Bösen), die den Kopf einer Figur mit einer Blume in der Hand darstellt, zum anderen Rainers Übermalung desselben Motivs von 1984. Während Redon den dichterischen Ausdruck der »bösen Blume« gewissermaßen direkt ins Bild überträgt, konzentriert sich Rainer auf das Gesicht, dem er einen undeutlichen rötlichen Schatten verleiht. Er erzeugt eine spukhafte Doppelbelichtung, die die Idee der »Fleur du mal« weg von der Botanik und hin in einen Bereich psychischer Zwänge und Ängste lenkt.

So sind in dieser Ausstellung keineswegs nur Blumen zu sehen – zumal es »böse« Blumen gar nicht gibt. Baudelaire selbst hat den Blumen kein einziges Gedicht gewidmet (lediglich ein Abschnitt des Gedichtbandes ist »Fleurs du mal« überschrieben), wie er sich überhaupt für die Natur nicht entzücken konnte. Auf die Bitte eines Forstmanns, zu einem Sammelband Verse über die Natur beizusteuern, antwortete Baudelaire gar: »Sie wissen doch, daß ich außerstande bin, über die Vegetabilien in Rührung zu geraten […] Ich werde niemals glauben, daß die Seele der Götter in den Pflanzen wohnt, und selbst wenn sie dort wohnen sollte, kümmerte mich das wenig, und ich würde meine eigene für ein sehr viel höheres Gut halten als jene der geheiligten Gemüse.« Stattdessen verstand er seine eigenen Gedichte als »kränkliche Blumen«, wie es in seiner Widmung der »Fleurs du mal« an Théophile Gautier heißt.

Neben den teilweise noch zu Lebzeiten des Dichters entstandenen Illustrationen zu den »Fleurs du mal« sowie den bereits genannten Werken von Laermans, Höch oder Wehrmann geht es in dieser Ausstellung also auch um in den »Fleurs du mal« behandelte Themen. Hierzu gehören die Depression – man könnte sie geradezu als Ausgangspunkt der gesamten »Fleurs du mal« bezeichnen –, die unsittlichen Versprechungen von Eros und Rausch, die Faszination für das Kränkliche und den Verfall oder die Idee des Surrogats bis hin zum Kitsch.

Für Baudelaire, der den ersten Abschnitt des Bandes mit dem Gedicht »Bénédiction« (Segen) beginnen lässt – tatsächlich handelt es sich um den Fluch der Dichter-Mutter, die den Sohn als »Spottgeburt« verschmäht –, sind solche Themen stets der Schauplatz teuflischer Widersprüche. So preist er seine Geliebte für ihre ausdruckslosen Augen (»Kellerlöcher deiner Seele«), ihre aus der Langeweile geborene Bosheit und besingt die Lust an der Lüge: »Was kümmert mich dein Stumpfsinn, deine Kälte? Maske oder Zierde, sei gegrüßt! Ich bete deine Schönheit an.«

An anderer Stelle ist es das an einem Sommermorgen in einer Wegbiegung gefundene Aas, das den Dichter entzückt: das Gerippe, das sich »gleich einer Blume hob und auftat«, überwogt von schwarzen Maden-Bataillonen, die den Anschein erwecken, als ob der faulende Kadaver »von ungewissem Hauch gebläht, vielfältig sich vermehrend lebte«. Eine ähnliche Ästhetik, bei der das Tote oder Verfallene paradoxerweise lebendig erscheint, findet sich in den Mumien-Fotografien von Gundula Schulze Eldowy wieder oder in den Fotografien von Schuldt: Die wie Flammen in die Höhe ragenden Hände (»Bouncing an Echo«, 2003) scheinen auch in eine andere, höhere Sphäre zu weisen – jenseits der chinesischen Warenwelt, in der sie der Künstler als Teile von Schaufensterpuppen fand.

Den Abschluss der Ausstellung bildet die große Rauminstallation des Zero-Künstlers Otto Piene (1928–2014): 13 riesige Blumen aus schwarzer Kunstseide, die jeweils zur vollen Stunde unter stroboskopischen Blitzgewittern und mit ohrenbetäubendem Lärm in der Dunkelheit des Sahurê-Saals aufblühen, entwerfen das Bild einer dunklen Natur, deren beängstigende Übermacht uns ebenso erschreckt, wie uns ihre fremdartige Schönheit fasziniert.

Text – Kyllikki Zacharias, Kuratorin der Ausstellung und Leiterin der Sammlung

 

»Böse Blumen«

Bis 4. Mai 2025

Sammlung Scharf-Gerstenberg

smb.museum

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