Flamboyantes Universum
Die Drag-Ikone Vaginal Davis zelebriert die Grenzenlosigkeit von Identität und Performance
Die Titel »Icon« oder »Mother« werden in den sozialen Medien beinahe inflationär an prominente Persönlichkeiten verliehen. Wie nicht wenige Begriffe, die in der Popkultur zirkulieren, wurden sie durch ihre Verwendung in der Schwarzen und Latine Ballroom-Szene geprägt und umgedeutet, bevor sie ihren Weg in kommerzielle Unterhaltungsformate fanden. Vaginal Davis’ Drag, den José Esteban Muñoz einst als terroristisch betitelte, bewegt sich jedoch entschieden abseits dieser Sphären – ihre künstlerische Praxis formierte sich im queeren Punk-Underground der US-amerikanischen Westküste, als dessen Gründungsmutter sie gilt, und widersetzt sich fixierenden Zuschreibungen und Eindeutigkeiten. Schon als Jugendliche gab sie sich in den 1970er-Jahren, inspiriert vom politischen Kampf der Black Panthers, ihren Namen als Hommage an die Kommunistin, Feministin und Black-Power-Aktivistin Angela Davis. Das Erfinden, Aneignen und Erzählen nicht nur einer, sondern multipler Personas und Geschichten schreibt Davis in ihrem gesamten Schaffen fort: Als Autorin, bildende Künstlerin, Filmemacherin, Gründerin zahlreicher Kunst-Punk-Bands, selbsternannte Blacktress (eine Wortschöpfung aus Black und Actress), Gossipkolumnistin, Performancekünstlerin und Lehrende ist sie eine wichtige Stimme queerer, Schwarzer Gegenkultur.
Geboren und aufgewachsen in Los Angeles, lebt Vaginal Davis seit mittlerweile 20 Jahren in Berlin. Hier ist die vom Kurator Hendrik Folkerts am Moderna Museet initiierte und dezentral in verschiedenen Institutionen Stockholms organisierte Ausstellung »Magnificent Product« nun für den Gropius Bau adaptiert worden. »Fabelhaftes Produkt« umfasst Arbeiten von 1985 bis 2025 und transformiert das persönliche Archiv von Vaginal Davis in sieben großen Installationen. Zines, Collagen, Malerei, Film, Video, Sound und Skulptur – einige von ihnen nur wenige Zentimeter große Aluminiumgüsse, andere lebensgroße Figuren aus Brotteig – bilden hier komplexe oder, wie Vaginal Davis sagen würde, »perverse Gefüge«, in denen Kategorien wie Genre und Identität permanent aufgemischt und durchgearbeitet werden.
In ihrem künstlerischen Schaffen verwendet Davis das, was sie umgibt – neben Schere, Kleber, Porno- und Klatschzeitschriften dienen ihr abgelaufene Medikamente und Schminke, die sie zum Aufhübschen für öffentliche Auftritte verwendet, als Mittel zur Bildproduktion.
Michel de Certeaus Konzept der »Perruque«, welches er in »Kunst des Handelns« entwickelt, beschreibt subversive Praktiken innerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen, bei denen Arbeiter*innen die Produktionsmittel ihres Arbeitsplatzes temporär und unauffällig für eigene Zwecke aneignen und umfunktionieren. So nutzte Vaginal Davis den Fotokopierer im Büro, in dem sie an der University of California in Los Angeles arbeitete, um Ausgaben ihres legendären Zines »Fertile La Toyah Jackson Magazine« (1982–1991) zu produzieren.
Es sind die langjährigen Wegbegleiter*innen von Davis, die viele der Materialien aufbewahrt haben, die nun für die Ausstellung zusammengetragen worden sind. Nicht in Vitrinen, sondern hinter halbtransparenten Vorhängen, die zugleich verdecken und die Performativität des Betrachtens verdeutlichen, ist das Archiv zu einer begehbaren Installation angeordnet. Ephemera wie Flyer und Poster für Performances, die berüchtigte Veranstaltungsreihe »Club Sucker« (1994–1999) und Screenings ihrer No-Budget-Filme hängen neben ikonischen Fotos von Vaginal Davis und ihren zahlreichen Bands: »Afro Sisters«, »¡Cholita!«, »black fag«, um nur einige zu nennen. Sie zeugen davon, dass Vaginal Davis als Performance-Projekt von Beginn an ein kollektives, von Freundschaft getragenes Unterfangen ist.
Zahlreiche der Werke sind in Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen und Kulturschaffenden entstanden. Den Auftakt bildet die raumgreifende Arbeit »Naked on my Ozgoad or: Fausthaus – Anal Deep Throat« (2024/25), die gemeinsam mit Jonathan Berger ortsspezifisch für den Gropius Bau etwickelt wurde und die queeren, feministischen Protagonist*innen in L. Frank Baums »Oz«-Büchern (1900–1919) neu interpretieren, die Davis schon seit ihrer Kindheit faszinieren. Denn mindestens so sehr wie Bühnen sind Bibliotheken die Orte, die Vaginal Davis maßgeblich geprägt haben. Sie tauchen mehrfach als Motiv in der Ausstellung auf und verweisen auf Davis’ eigene Schreibpraxis und ihr Referenzsystem: von imaginären Büchern in der Fantasia »Library« (2021), einer Art Lese- und Kopierraum mit Kolumnen, Reportagen und Zines in »Hofpfisterei« (2024) bis hin zu Portraitmalereien, Publikationen und Zitaten von einflussreichen Autorinnen wie Octavia Butler, Wanda Coleman, Joan Didion, Nikki Giovanni, June Jordan und Audre Lorde.
Als Ausstellung innerhalb der Ausstellung verdeutlicht »Choose Mutation, mit Fotografien von Annette Frick« (2024) des Kollektivs »Cheap« (Konzept von Susanne Sachsse, Marc Siegel und Martin Siemann), wie Strategien der Selbstorganisation Vaginal Davis nun seit über 20 Jahren mit dem Berliner Kunstkollektiv verbinden. »Cheap« gründete sich 2001 aus dem Bedürfnis heraus, soziale Räume jenseits hetero- und homonormativer Ordnungen zu schaffen. Die überlebensgroßen Schwarz-Weiß-Fotografien von Annette Frick dokumentieren die Anfänge der Gruppe, die in unterschiedlichen Konstellationen und Formaten arbeitet. Das titelgebende Video »Choose Mutation« kombiniert gefundenes und selbstproduziertes Film- und Tonmaterial zu einer dystopischen Collage über Paranoia und die Auswirkungen sozialer wie politischer Kontrolle auf Sprache und Körper – und die gewählte Mutation als mögliche Gegenbewegung.
Es sind diese dringlichen Fragen um das Verhältnis von Kollektivität und Intimität, die Vaginal Davis’ Kunst stellt. »Fabelhaftes Produkt« lädt in ihr Universum ein, das von literarischen Heldinnen und echten Ikonen bewohnt wird.
Text – Christopher Wierling, Assistenzkurator
Vaginal Davis: Fabelhaftes Produkt
bis 14. September 2025
Gropius Bau