Epoche der Kosmopoliten

Robe à la française mit Ballonmotiven, vermutlich Frankreich, um 1783
© Deutsches Historisches Museum
Museumsjournal 4/24
Die Aufklärung war voller Gegensätze. Zur Aktualität eines 250 Jahre alten philosophischen Konzepts

Der Ausstellungstitel »Was ist Aufklärung?« ist eine Frage und ein Zitat. Im Dezember 1783 veröffentlichte der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner einen Beitrag in der »Berlinischen Monatsschrift«, in dem er gegen die Einführung der Zivilehe argumentierte, die in ebendieser Zeitschrift zur Diskussion stand. Für Zöllner lief eine Zivilehe den Interessen des Staates entgegen, und er sah darin nichts anderes als ein Resultat jener merkwürdigen Ideen, die als »Aufklärung« verbreitet wurden. Auf seine Frage »Was ist Aufklärung?« in einer Fußnote setzte er hinzu: »Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wo[h]l beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!« Tatsächlich waren zu dieser Zeit viele der bekannten Schriften der Aufklärung bereits publiziert, auch die amerikanischen Kolonien hatten sich nicht zuletzt im Namen der Aufklärung vom englischen Mutterland getrennt – was Aufklärung nun eigentlich bedeuten sollte, wurde aber immer noch diskutiert.

Für die Philosophiegeschichte hatte Zöllners Fußnote Konsequenzen. Denn die »Berlinische Monatsschrift« gab seine Frage an die Leserschaft weiter und machte dies zu einer Art Werbekampagne für das neu gegründete Blatt. Zahlreiche Autoren sandten ihre Antworten ein, von denen einige abgedruckt wurden. Im September 1784 erschien beispielsweise Moses Mendelssohns Replik »Ueber die Frage: Was heißt aufklären?«. Mendelssohn sah das Aufklären als einen Prozess: »Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung« und beschrieb Begriffe ebenso wie Menschen als Neuankömmlinge in einem Staat. Immanuel Kants im Dezember desselben Jahres veröffentlichter Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« gehört heute wahrscheinlich zu dessen bekanntesten Schriften. »Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, heißt es dort. Ein Mann solle sich selbst emanzipieren. Doch galt dies auch für einen Sklaven? Oder eine Frau? Das Deutsche Historische Museum bringt Zöllners Frage erneut ins Gespräch und gestaltet auf Grundlage dieser Fußnote eine große Ausstellung. Die anschauliche Auseinandersetzung mit einer philosophischen Frage stellt eine gewisse Herausforderung dar. Dabei folgt die Ausstellung mit vielen weiteren, konkreten Fragen an das 18. Jahrhundert, untersucht die Rolle der Vernunft, die Entstehung neuer Wissenschaften und eines neuen Ordnungsdiskurses sowie die Forderung nach Menschenrechten. Sie beschäftigt sich mit den politischen und wirtschaftlichen Modellen der Zeit und dem neuen Begriff von Öffentlichkeit, der sich auch auf Publikationsmedien und Akademien bezieht. Einzelne Sektionen stellen die grundlegende Bedeutung der Pädagogik dar, zeichnen die Geschlechtermodelle der Zeit nach und behandeln die Moderne, welche die Antike wiederentdeckte. Diese Sektionen stehen wie die Elemente eines Kaleidoskops miteinander im Zusammenhang; Personen und Ereignisse erscheinen dabei in unterschiedlichen Konstellationen. Die Schau charakterisiert die Aufklärung als ein genuin internationales Phänomen. Es wurde vor allem von europäischen Denkern (und einigen Denkerinnen) getragen, aber diese formulierten ihre Ideen nicht zuletzt aufgrund außereuropäischer Reisen, eines regen Austauschs von Briefen, Büchern und Schriften und aufgrund eines intensiven Handels mit Waren von anderen Kontinenten.

Die philosophischen Konzepte der Zeit wurden keineswegs immer in die Praxis umgesetzt. So deklarierte etwa Friedrich II. von Preußen eine religiöse Toleranz, die nicht verwirklicht wurde. Thomas Jefferson postulierte in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika die Gleichheit aller Menschen und war selbst Sklavenhalter. Die Konzepte und Praktiken der Epoche waren voller Widersprüche. Es war die Zeit der Kosmopoliten, aber auch des Kolonialismus, in dem Menschen zur Handelsware wurden. Entdeckungsreisen führten zu fremden Völkern, die mit großer Neugierde beschrieben wurden; doch Versuche der Klassifizierung von Menschen bereiteten auch die Grundlage für eine spätere Rassenkunde. Heute berufen wir uns auf viele der positiven Forderungen dieser Epoche: auf die politische Freiheit, die Menschenrechte und eine offene Diskussionskultur. Dennoch sind wir gerade auch die Erben der Widersprüche dieser Zeit, sie prägen bis heute unser Denken und Handeln.

In der Ausstellung zeigen wir etwa 400 zumeist einzigartige Objekte aus den Sammlungen deutscher wie anderer europäischer und amerikanischer Institutionen, darunter Manuskripte von Isaac Newton, das silberne Mikroskop Georgs III. von England und eine französische Erklärung der Menschenrechte in Form einer runden Oblate. Aus der Sammlung des DHM stammen rare Porzellanobjekte und ein französisches Ballkleid, das mit Luftschiffen bestickt ist. An digitalen Stationen kann das Publikum intensiver in die Themen eintauchen, zum Beispiel die Wege des Raubdrucks von Schriften Voltaires oder Rousseaus nachverfolgen.

Deutsche und internationale Persönlichkeiten beantworten in Video-Interviews die Frage »Was ist Aufklärung?« und erläutern ihre heutige Sicht auf die Problematik. Unter anderen äußern sich der Immunologe Drew Weissman, der 2023 den Nobelpreis für Medizin für ein neues Impfverfahren erhielt, die Philosophin Martha Nussbaum, der Philosoph Kwame Anthony Appiah, die Historikerin Annette Gordon-Reed, der ehemalige Direktor des British Museum Neil MacGregor; deutsche Publizisten wie Jens Bisky und Jürgen Kaube und Nargess Eskandari-Grünberg, die ehemals aus dem Iran flüchtete und heute als Bürgermeisterin von Frankfurt am Main amtiert. Längere Versionen der in der Ausstellung gezeigten Interviews finden sich auf einer besonderen Webseite des DHM. Ein von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes Vermittlungsprogramm ermöglichte es, junge Menschen in Berliner und Brandenburger Schulen sowie Jugendzentren und Bildungseinrichtungen in die Planung miteinzubeziehen; Resultate ihrer Projekte werden ebenfalls in der Ausstellung und einer begleitenden Webseite gezeigt. Die Ausstellung selbst ist inklusiv konzipiert und bietet eine sogenannte Kinderspur, die selbstentdeckendes Lernen fördern soll.

Text – Liliane Weißberg, Kuratorin

 

» Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert«

18. Oktober 2024 bis 6. April 2025

Deutsches Historisches Museum

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