Interview mit Kathleen Reinhardt

Foto: Jérôme Depierre

 

»Wir sollten lernen, uns in der Unbequemlichkeit der Geschichte Kathleen einzurichten«

Kathleen Reinhardt

 

Kathleen Reinhardt, die Direktorin des Georg Kolbe Museums und Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der kommenden Venedig-Biennale spricht über Kunst als Mittel der Verständigung, das Museum als lernende Institution und aktuelle Formen der Erinnerung.

Umsäumt von riesigen Kiefern verkörpert das backsteinerne Gebäudeensemble im Westend ein wahres Architekturjuwel der Moderne: Das Georg Kolbe Museum ist eine der schönsten Institutionen Berlins und trotz seiner randstädtischen Lage ein Treffpunkt der jungen internationalen Kunstszene. Zu verdanken ist dies dem progressiven Programm von Kathleen Reinhardt, die das Haus seit 2022 leitet und den Spagat zwischen Moderne und Gegenwart souverän meistert.

Zu Beginn unseres Interviews führt sie uns durch die aktuelle Jubiläumsausstellung. Vor 75 Jahren eröffnete das ehemalige Bildhaueratelier als erstes West-Berliner Museum; da lag die Stadt teilweise noch in Trümmern. Reinhardt nutzt das Jubiläum für eine kritische Revision Kolbes und zeigt die Brüche und Schwierigkeiten im Umgang mit einer ambivalenten Geschichte. Im nächsten Jahr kuratiert sie den Deutschen Pavillon auf der 61. Kunstbiennale in Venedig. Im Interview erzählt sie von ihren Plänen.

 

Foto: Jérôme Depierre
Foto: Jérôme Depierre

Kathleen Reinhardt ist Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der 61. Venedig Biennale 2026. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin leitet seit 2022 das Berliner Georg Kolbe Museum, wo sie unter anderem viel beachtete Ausstellungen zu Lin May Saeed, Renée Sintenis und Noa Eshkol realisierte. Von 2016 bis 2022 war sie  Kuratorin für Gegenwartskunst am Albertinum Dresden. Hier verantwortete sie zuletzt das mehrjährige Forschungs- und Ausstellungsprojekt »Revolutionary Romances. Transkulturelle Kunstgeschichten in der DDR«. Sie promovierte an der FU Berlin zu afroamerikanischer Kunstgeschichte.

 

Frau Reinhardt, Sie kündigen für Venedig neue ortsspezifische Werke an, die die großen Themen des deutschen Pavillons in einem anderen Koordinatensystem verorten sollen. Was heißt das konkret? 

Kathleen Reinhardt Nahezu alle künstlerischen Positionen im deutschen Pavillon bezogen sich bislang auf die Vergangenheit Deutschlands. Henrike Naumann und Sung Tieu werden die jüngere deutsche Geschichte in den Blick nehmen, die für unsere Gegenwart virulent ist. Als Francis Fukuyama im Sommer 1989 vom Ende der Geschichte sprach, war das eben nicht das Ende. Es geht darum, dass das, womit sich der deutsche Pavillon immer wieder beschäftigt hat, nun eine Erneuerung durch künstlerische Positionen erfährt, die anstatt der Vergangenheit die  unmittelbare Gegenwart zum Gegenstand einer kritischen Reflexion macht. Ich kuratiere einen Pavillon, dessen Kunst absolut zeitgenössisch ist und sich zugleich mit den verschiedenen Aspekten von Geschichte beschäftigt, somit in unterschiedliche Richtungen denkt und denken kann.

 

Welche Richtungen sind das und wie verlief Ihre Ideenfindung? 

Bei meinen Überlegungen ging es nicht darum, im Sinne einer retrospektiven Aufarbeitung etwas nachzuholen, was in den letzten Jahrzehnten versäumt wurde. Vielmehr habe ich darüber nachgedacht, welche Positionen in Deutschland die Gegenwartskunst repräsentieren und von der deutschen Situation sprechen, aber auch etwas zum internationalen Diskurs beitragen können.

 

Worin liegen die Vorzüge eines Pavillons mit zwei künstlerischen Positionen?

Um die Anzahl ging es mir nicht, sondern explizit um diese beiden Positionen. Mit Henrike Naumann und Sung Tieu zeige ich zwei Künstlerinnen aus einer Generation, die sich künstlerisch und intellektuell seit langer Zeit schon mit deutscher Gegenwarts- und Erinnerungslandschaft auseinandersetzen.

 

Bei der Bekanntgabe der Künstlerinnen hoben viele Medien stark auf deren ostdeutsche Sozialisation ab. Auch Sie sind teilweise in der DDR aufgewachsen. Wie fanden Sie diese erste Reaktion? 

Natürlich spielt die deutsch-deutsche Geschichte in meinem Denken und meiner kuratorischen Arbeit eine große Rolle. Insofern interessiert mich beispielsweise auch die Vergangenheit des DDR-Pavillons oder wer ab 1990 in Venedig gezeigt wurde, beziehungsweise wer nicht als »pavillonwürdig« angesehen wurde. Frauen waren relativ selten vertreten und ein ostdeutscher Hintergrund war nicht relevant. Vielleicht sind wir jetzt eher bereit, dies bewusster zu betrachten, schließlich ist es auch eine Generationsfrage.

 

Was halten Sie von der Architektur des Deutschen Pavillons?  

Der Pavillon ist ein Klotz, eine zu Stein gewordene Realität und wird immer daran erinnern, was in den 1930er-Jahren geschehen ist. Ich finde es spannend und wichtig, dass dieser Bau in dieser Form da ist und immer wieder dazu herausfordert, mit ihm und seinem Entstehungskontext umzugehen.

 

Wie definieren Sie einen erfolgreichen Pavillon? 

Mit den Ausstellungen der Pavillons wird unmittelbar Kunstgeschichte geschrieben. Die Venedig Biennale blickt auf eine 130-jährige Geschichte zurück und es spiegelt sich hier immer auch unmittelbare Zeitgeschichte wider, was gerade retrospektiv sehr spannend ist. Es geht somit auch darum, den Status Quo von 2026 zu zeigen. Das gilt in Bezug auf die Kunst, auf die gesellschaftlichen Diskussionen hierzulande im Dialog mit einem internationalen Umfeld und dem Ausstellungsort Venedig. Es gibt viele Ebenen, die den Pavillon bedeutungsvoll machen.

 

Derzeit erleben wir ein Erstarken von Nationalismen, Abschottungen und Grenzziehungen. Welche Rolle spielt da das für Venedig traditionelle Konzept der Länderpavillons und der nationalen Repräsentation? 

Vielleicht ist es gerade wieder interessant, Venedig in diesem historischen Kontinuum zu betrachten, denn natürlich wollen die meisten keine Essentialisierung des Nationalen. Dennoch werden wir plötzlich wieder in solch einen Raum hineingeschoben, in dem es genau darum geht. Die einzelnen Pavillons als Manifestationen ihrer Nationalitäten wurden lange Zeit in Frage gestellt. Plötzlich aber drängt sich eine neue Realität, die wir uns alle nicht gewünscht haben, mit ungeheurer Vehemenz auf. Wir hatten ein unglaubliches Glück, so lange in Frieden zu leben, um dies alles hinterfragen zu können.

 

Die Biennale von Venedig wird als Mutter aller Biennalen gefeiert. Welche Relevanz hat eine solche internationale Großveranstaltung gegenwärtig? 

Die Venedig-Biennale ist und bleibt einmalig. Das hat mit der Verbindung zur internationalen Kunstwelt, der Stadt selbst sowie ihrer einmaligen Geschichte zu tun und lässt sich nicht auf Biennalen anderswo übertragen. Das ist ein Grund, warum ich den Deutschen Pavillon auch in seiner Institutionsgeschichte wahrnehmen möchte, mit all seinen Iterationen, den Gebäudeveränderungen, dem Niederschlag verschiedener politischer Systeme in Italien und dem über die Jahre währenden Austausch mit zeitgenössischer Kunst.

 

Für Sie ist es eine Art Rückkehr nach Venedig.

Venedig ist der Ort, an dem ich Kunst für mich entdeckt habe. Ich habe hier 2006 zum Abschluss meines Studiums in der Peggy-Guggenheim-Sammlung ein Praktikum gemacht. Es ist ein extrem besonderer Ort, war auch ein privates Wohnhaus, bevor es zum Museum wurde. Mich hat damals die Erkenntnis regelrecht entflammt, dass Kunst sehr viel mit Geschichte und bestimmten Umständen und Personen zu tun hat, unter denen sie geschaffen wurde.

 

Aktuell sind Sie mit der Finanzierung und Akquise von Geldern beschäftigt. Wie nehmen Sie diese Herausforderung in Angriff und wie setzt sich das Budget zusammen? 

Das ifa – Institut für Auslandsbeziehungen, das der Kommissar des Deutschen Pavillon ist und vom Auswärtigen Amt finanziert wird, stellt ein Basisbudget. Und das ist eine Aufgabe der Kurator*innen. Die notwendigen Summen erhöhen sich jedes Jahr. Kunsttransporte, Materialien, Arbeitskräfte werden teurer. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage und knapper öffentlicher Kassen für Kultur ist die Suche nach finanzieller Unterstützung keine einfache Aufgabe.

 

Bevor Sie vor rund zehn Jahren anfingen, für Museen zu arbeiten, leiteten Sie die Ateliers von Candice Breitz und Petrit Halilaj in Berlin. Was haben Sie dort über die Kunstwelt gelernt? 

Für mich ist es sehr wichtig, ganz nah an der künstlerischen Position zu sein. Ich möchte alle Aspekte der künstlerischen Praxis verstehen, auch wenn sie unbequem ist oder ich sie vielleicht in bestimmten Aspekten nicht gut finde. So sehe ich auch meine Rolle als Kuratorin. Mit lebenden Künstler*innen zu arbeiten ist etwas sehr Besonderes, weil man wirklich auf diesem ganzen Weg dabei ist. Die Unterschiede in den Arbeitsweisen sind immer höchst spannend und es ist ein Privileg, an den oft herausfordernden Erarbeitungs- und Übertragungsprozessen einer Art wilden Denkens teilzuhaben.

 

Zwischen 2016 und 2022 waren Sie Kuratorin und Konservatorin für Gegenwartskunst am Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und haben dort 2018/2019 eine Ausstellung mit Ruth Wolf-Rehfeldt kuratiert, die auch mit die Initialzündung für deren Wiederentdeckung war. Wie sind Sie auf die Künstlerin aufmerksam geworden?

Durch den amerikanischen Künstler David Horvitz, der ja auch Teil der Ausstellung war. Ich bin seit langer Zeit mit ihm befreundet. David besuchte Ruth 2014 für Recherchen in Berlin und entdeckte in ihrem Archiv die »Typewritings« aus den 1970er-Jahren. Nach dieser ersten Begegnung waren die beiden in regem Mail-Art-Austausch, obwohl Ruth Wolf-Rehfeldt seit dem Ende der DDR nicht mehr künstlerisch tätig war. David hatte mir davon erzählt und eben das ist spannend: Ich möchte wirklich den Künstler*innen folgen und frage sie immer, welche Positionen sie inspirieren. Es geht mir um dieses künstlerische Denken und dessen Koordinatensystem.

 

Ruth Wolf-Rehfeld spielte gemeinsam mit ihrem Mann eine wichtige Rolle in der DDR-Kunst. Auch mit Ihrer Ausstellung zu Angela Davis in Dresden haben Sie ein Kapitel ungeschriebener Kunstgeschichte geöffnet. Wie kam es dazu? 

Für mich ist es wichtig, einen lokalen oder regionalen Kontext auf etwas Größeres zu beziehen. Wie etwa bei Horvitz und Rehfeldt, wo über verschiedene Systeme und Generationen hinweg die Kunst als Verständigung, als Nukleus diente. Das fand ich extrem berührend. Und so war es auch mit der Angela-Davis-Ausstellung. Ich wollte einen besonderen geschichtlichen Moment, der eine große Chance hätte sein können, Dinge zu verändern, mit der Gegenwart verbinden. Einerseits war da die zwiespältige Rolle, die Angela Davis für die Generation meiner Eltern, die in der DDR aufgewachsen sind, gespielt hat. Andererseits geht ihre Bedeutung weit darüber hinaus, denn Davis hat als Akademikerin und Wissenschaftlerin in den 1980er- und 1990er-Jahren Grundlagen für unser heutiges intellektuelles Spektrum geschaffen. So hat sie zum Beispiel Maßstäbe für das intersektionale Denken gesetzt. Ich finde es aufschlussreich, diese verschiedenen Kontexte miteinander zu verbinden und durch die Augen von Kunstschaffenden und durch ihre Werke zu betrachten.

 

Die Ausstellung überlagerte sich mit zwei einschneidenden geschichtlichen Ereignissen: die Bewegung »Black Lives Matter« und die Covid-Pandemie. Wie hat das Ihre Arbeit beeinflusst? 

Während der Covid-Pandemie war es extrem problematisch, sogar nahezu unmöglich, museale Räume als sichere Orte zu vermitteln. Museen hätten dafür alle Voraussetzungen geboten, angefangen mit ihren ausgeklügelten Lüftungssystemen, der Möglichkeit von Regulierung des Zugangs und vielem mehr. Es war ein Schock, wie das museale Feld offenbar nicht ernst genommen wurde, auch nicht seine gesellschaftliche Relevanz gerade in dieser spezifischen Krise.

 

Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sind mit 15 Museen der zweitgrößte Museumsverband Deutschlands. 2022 haben Sie die Leitung des Georg Kolbe Museum übernommen. Welche Herausforderungen brachte dieser Wechsel an ein kleines Haus abseits des Zentrums von Berlin mit sich?

Wenn man in einem derart großen musealen Tanker mit überwiegend historischen Sammlungen tätig ist, hat man im zeitgenössischen Bereich oft einen relativ eingeschränkten Spielraum. Restriktive Strukturen und Regularien erschweren es da manchmal, mit innovativen künstlerischen Positionen zu arbeiten, da man oft die einzige Kuratorin im Team ist, die mit noch lebenden Künstler*innen arbeitet, die selbst Ansprüche an die Ausstellungssituation stellen.

Eine kleine Institution wie das Georg Kolbe Museum ist wesentlich wendiger. Viele Dinge sind einfacher, können direkt und damit schnell entschieden werden. Ich kann selbst bestimmen, welche konzeptuellen Aspekte ich herausgreifen möchte und neue Modelle ausprobieren. In großen Museen neue Methoden einzuführen, ist hingegen meist lediglich auf Diskursebene möglich, weil sich die Umsetzung von Veränderungsprozessen unglaublich komplex gestaltet.

 

Wie ist der Kolbe-Nachlass organisiert? Und welche Auswirkungen hat die Berliner Sparpolitik? 

Wir haben eine extrem dünne Personaldecke. Die Kuratorin Elisa Tamaschke und ich haben die einzigen Vollzeitstellen. Alle anderen sind Minijobber, haben befristete Projektstellen oder arbeiten in Teilzeit. Mit einem derart porösen Netz fundierte Arbeit zu leisten, ist schwierig. Wegen der Sparpolitik wird dieses Netz nun immer weiter zerschnitten. Das ist für alle eine große Herausforderung und es stellt sich die Frage, wo man überhaupt noch sparen kann? Die Dimensionen der geforderten Einsparungen im Kulturbereich sind einer großen Öffentlichkeit überhaupt nicht klar. Es geht ganz konkret um Arbeitsplätze und um die Sicherung und Vermittlung von Kulturgut. Ich habe ein unglaublich tolles Team, das das Haus in allem unterstützt und oft an seine Grenzen geht, um das umzusetzen.

 

Das Museum hatte bereits vor den Sparmaßnahmen keinen Ausstellungsetat?

Es war ein sehr bescheidener Anteil, der für Ausstellungen eingesetzt werden konnte und oft dem Nachweis der Eigenmittel diente, um überhaupt Fördermittelanträge stellen zu können. Denn für alles hier, für Ausstellungen, Programme und Forschung müssen externe Mittel eingeworben werden. Hinzu kommt, dass im denkmalgeschützten Georg Kolbe Museum Reparaturen ein Dauerthema sind. Es ist kein Geld da, um den seit Wochen defekten Aufzug zu reparieren und so Barrierefreiheit zu gewährleisten. Die Bäume sind alt und sterben ab bei den sich schnell verändernden klimatischen Bedingungen. Ich habe keinen Etat, um sie aufzuforsten. Das ist eine große Belastung. Wir zittern alle, wenn etwas kaputt geht, ob wir in der Lage sind, es zu reparieren.

 

Georg Kolbe ist historisch ambivalent. Die Jubiläumsausstellung »Tea and Dry Biscuits« würdigt den Bildhauer und kratzt zugleich am Mythos. Wie haben Sie sich dem 75. Geburtstag des Museums genähert? 

Es gibt auf der einen Seite nach wie vor eine Faszination für die schönen Körper, die Kolbe geschaffen hat. Auf der anderen Seite hat sich dieses Körperverständnis innerhalb der politischen Systeme, durch die er als Bildhauer ja immer sehr erfolgreich gegangen ist, auch stetig verändert. Im ersten Teil des Jubiläumsjahres haben wir rausgezoomt – die Gründung des Museums nach Kolbes Tod im internationalen Dialog mit verschiedenen Gegenwartspositionen thematisiert, im zweiten Teil wird es ein Kontrast zwischen Kolbes Männerfiguren und Fotografien von Herbert List mit wenigen zeitgenössischen Gästen. Das spiegelt sich auch im Forschungsinteresse. Das Kolbe-Archiv ist das größte vollständige Bildhauerarchiv der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland, in dem sich enorm viel Korrespondenz mit Privatpersonen, Künstlern, Sammlern, Händlern und Galeristen aus der Zeit findet. Sie belegt Kolbes Nähe zu den Mächtigen verschiedener Regierungszeiten vom Kaiserreich, über den Nationalsozialismus bis in die unmittelbare Nachkriegszeit und bis zu seinem Tod 1947 und macht sein Agieren auf den jeweiligen Märkten sowie in den wechselnden politischen Systemen nachvollziehbar.

 

Inwieweit sind Sie bei aller kritischen Aufarbeitung Kolbes Erbe verpflichtet? Wo liegen die Grenzen der Kritik an seiner Person?

Die Rückkehr des sogenannten Kanada-Nachlasses 2020 nach Berlin war ein absoluter Wendepunkt für die Institution. Dabei handelte es sich um mehr als hundert Kisten mit Briefen, Tagebüchern und Fotos aus dem Nachlass Georg Kolbes, die seine Enkelin und zweite Direktorin des Museums Maria von Tiesenhausen im Laufe der 1970er-Jahre nach Kanada gebracht hatte. Erst da konnten die 1930er- und 1940er-Jahre rekonstruiert werden. Während es vorher eher darum ging, die Qualität der Werke zu zeigen, ist es jetzt meine Aufgabe, eine kritische Ebene zu schaffen, damit diese Institution weitere 75 Jahre relevant bestehen kann. Die Zeiten haben sich grundsätzlich geändert. Das Museumspublikum sieht heute nicht mehr nur die Ästhetik eines Werks, sondern will verstehen, wie sich bestimmte Positionen in ihrem spezifischen Kontext aufgebaut haben und was sich daraus für die Gegenwart und Zukunft ergibt.

 

Wie reagiert das Stammpublikum? Die schimmeligen Orangen des spanischen Künstlers Álvaro Urbano lassen nicht gerade Feierlichkeit aufkommen.

Alle Ausstellungen, die wir zeigen, funktionieren stets auch auf einer rein ästhetischen Ebene. Man hat, ohne einen Wandtext zu lesen, ein Kunsterlebnis an einem sehr besonderen Ort. Taucht man jedoch tiefer ein, entfaltet sich etwas anderes. Wir sollten lernen, uns in dieser Unbequemlichkeit der Geschichte einzurichten.

 

Aus dem Kanada-Nachlass ist eine wegweisende Publikation Ihrer Vorgängerin Julia Wallner zu Georg Kolbe im Nationalsozialismus entstanden. Welche neuen Erkenntnisse hat sie gebracht?

Kolbe war in jedem System viel näher an der Macht als bisher angenommen, obwohl er sich nicht als politischer Mensch verstand. Das hat auch etwas mit der Porträtkunst an sich zu tun. Nur ein exklusiver Kreis hat sich zu gewissen Zeiten von Künstler*innen porträtieren lassen. Kolbe hat zum Beispiel in seiner Zeit während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich Enver Pascha porträtiert, der dann einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern war, was die Künstlerin Hande Server in dem für die Ausstellung entstandenen Auftragswerk thematisiert. Oder in einem der gerade im Museum ausgestellten Briefe bedankt sich Hitler für ein Kolbe-Werk, das ihm eine Handelsgesellschaft als Geburtstagsgeschenk gemacht hat: eine Büste des spanischen Generals Franco. Allein anhand des Personenkreises lässt sich vieles nachvollziehen. Wir sind gerade dabei, die Puzzleteile zusammenzusetzen, einerseits auf institutioneller Ebene mit Forschung und Bildungsprogrammen, andererseits auf künstlerischer Ebene, indem wir zeitgenössische Künstler*innen einladen, sich mit dem Werk auch kritisch auseinanderzusetzen. So kann Kolbes Leben und Werk für die Gegenwart relevant werden.

 

Für wen und warum ist Kolbe heute relevant? 

Mich fasziniert, wie Künstler*innen die Arbeit von Kolbe in ihrem Werk zitieren oder damit arbeiten. Ob das Ruth Wolf-Rehfeldt ist, die mit einer kleinen Collage über Kolbe in der Ausstellung vertreten ist, oder Heike Kabisch, die seit zwei Jahrzehnten Kolbes Körperstudienbuch in ihrem Atelier hat und betont, Kolbe sei für sie jemand, der den menschlichen Körper so abgebildet hat wie niemand anderer. Darüber hinaus zeigen sich viele konzeptuell arbeitende Künstler*innen an der politischen Dimension der Person Kolbes interessiert. Zentral ist aber natürlich auch der Ort – denn das Museum ist das einzig öffentlich zugängliche Künstleratelier der 1920er-Jahre in Berlin und befindet sich in einem vom Künstler selbst mitentworfenen minimalistischen Haus im Bauhausstil inmitten eines Waldgartens – ein architektonisches Juwel.

 

Wie weit ist der Nachlass erforscht, schlummern da Überraschungen?

Sicherlich, denn der Nachlass ist noch lange nicht abschließend erforscht. Wir können nur in kleinen Etappen arbeiten. Gerade erst haben wir das Werkverzeichnis der Skulpturen der Öffentlichkeit online zugänglich gemacht. Mein Wunsch für die Zukunft wäre es, Forschungsstipendien an Kunsthistoriker*innen zu vergeben, die mit dem Archiv arbeiten, das der eigentliche Schatz des Museums ist.

 

In einem offenen Rechercheprojekt haben Sie sich kürzlich intensiv mit dem Tänzerinnenbrunnen von Kolbe beschäftigt, den Heinrich Stahl einst in Auftrag gab. Der jüdische Unternehmer wurde von den Nationalsozialisten enteignet und im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Wie gehen Sie mit dieser NS-Raubkunst um? 

Am Beispiel des Tänzerinnenbrunnens werden die beiden Ebenen im Archiv und Museum deutlich: Auf der einen Seite gibt es die Kunst und ihre Rezeption, dazu gehört auch eine bestimmte Bildsprache und Bildpolitik, die für uns heute herausfordernd ist. Auf der anderen Seite steht die Objektgeschichte, die nur durch Forschung und ihre Veröffentlichung bekannt werden kann. Die vor mir liegende große Aufgabe besteht darin, das Museum weiter für solche kritischen und manchmal auch sich widersprechenden Fragestellungen zu öffnen. Wie kann die Institution gerade infolge oft sehr unbequemer Wahrheiten, ob in der eigenen Institutionsgeschichte oder in problematischen Bildprogrammen, Wege finden, dies relevant zu machen, entsprechend zu handeln und so zum öffentlichen Diskurs und zu historischen Gerechtigkeiten beizutragen?

Wir haben innerhalb unseres Forschungsprojekts über den Brunnen begonnen, das Schicksaal der Familie Stahl zu rekonstruieren. Dazu gehört auch, aktualisierte Formen der Erinnerung zu finden, und zwar in der ganzen Konsequenz, die das mit sich bringt. Es war uns wichtig, die NS-Verfolgungsgeschichte auch mit heutigem Wissen um dekoloniale Lesarten und Gedenken zu verknüpfen, denn das begegnet einem als Betrachtender als erstes, und dies in einem offenen Prozess der Aufarbeitung, gemeinsam mit dem interessierten Publikum lebendig zu halten. Die Publikation, das Vermittlungs- und Diskursprogramm oder künstlerische Beiträge wie der von David Hartt sind erste Schritte dorthin.

 

Was sagen Sie zu der Kritik, die Ihnen seitens der Presse entgegenschlug? Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Wir haben in dem Wandtext der begleitenden Rechercheausstellung und den Ankündigungen, den Fachbegriff »NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut« für den Brunnen nicht benutzt. Das war mit keinerlei Absicht verbunden, war aber falsch und hat Kritik ausgelöst. Der Brunnen ist NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, das haben wir klargestellt. Wir konzentrieren uns nun auf die Findung einer fairen und gerechten Lösung, gemeinsam mit den Nachfahren von Heinrich Stahl. Wir sind eine lernende Institution und wünschen uns den kritischen Austausch mit Künstler*innen, Expert*innen, der Öffentlichkeit und in diesem Fall vor allem den Nachfahren, wie weiter mit dem Objekt und seiner Geschichte umgegangen werden soll und kann. Nachdem wir die Nachfahren in den USA ausfindig gemacht haben, finden derzeit Gespräche statt, um weitere Schritte zu besprechen und juristische Details zu klären.

 

Welche Szenarien sind denkbar? 

Viele Szenarien sind denkbar, denn wir fühlen uns selbstverständlich den Washingtoner Prinzipien verpflichtet und setzen alles daran, eine faire und gerechte Lösung zu finden. Es geht zunächst darum, zu erfahren, welche Lösung sich die Nachfahren wünschen und dann in aller Konsequenz damit umzugehen. Genau das haben wir mit dem Tänzerinnenbrunnen versucht: proaktiv den Austausch mit den Nachfahren anzustoßen und die Öffentlichkeit teilhaben zu lassen und nicht eine Restitutionsangelegenheit hinter geschlossenen Türen zu verhandeln und die Ergebnisse lediglich in einer Pressemitteilung zusammenzufassen. Das Museum macht sich vulnerabel, wenn ich sage: Wir wissen vieles noch nicht und möchten das in einem iterativen Verfahren gemeinsam mit den Nachfahren, Experter*innen und der Öffentlichkeit herausfinden, um ins Handeln zu kommen. Ich bin davon überzeugt, dass eine Institution nicht an Objekten festhalten sollte. Wir müssen von diesen Abgrenzungen wegkommen, um gemeinsam und gerecht die Gegenwart und Zukunft gestalten zu können.

 

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