»Wir wollen die Anzahl der Kulturräume im Besitz Berlins bis 2030 verdoppeln«
Seit einem halben Jahr ist Joe Chialo Kultursenator von Berlin. Viel Zeit hatte er nicht, die vielen Kultureinrichtungen der Stadt kennenzulernen. Als ehemaliger Labelmanager gilt er manchen noch als Mann der Musik. In seinem neuen Amt hat er jüngst mit dem Vorschlag überrascht, die Zentrale Landesbibliothek im Gebäude der Galeries Lafayette unterzubringen. Aber wie blickt Chialo auf die angespannte Ateliersituation? Auf die Herausforderungen für die Museumslandschaft? Wir haben ihn gefragt.
Museumsjournal: Haben Sie ein Lieblingsmuseum in Berlin?
Joe Chialo: In den vergangenen Wochen war ich mehrmals ausgiebig auf Museumstour und habe mich mit den Leiterinnen und Leitern unterhalten. In den meisten Häusern war ich auch vor meinem Amtsantritt schon zu Besuch, aber hinter die Kulissen blicken zu dürfen, das ist doch etwas anderes. Die Berliner Museen haben alle ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Charme. Jedes Haus begeistert mich auf seine Weise. Viele Häuser stehen vor großen Herausforderungen, um ihr Publikum zu halten und neue Besucherinnen und Besucher zu erreichen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben durch die Inflation und hohe Energiekosten.
Im Koalitionsvertrag halten Sie am eintrittsfreien Sonntag fest. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die Museen darüber hinaus unterstützen?
Erfreulicherweise haben sich die meisten Museen erholt und verzeichnen wieder Besucherzahlen wie vor der Pandemie. Selbstverständlich bleibt es unser kulturpolitisches Ziel, weitere Besuchergruppen aus verschiedenen Milieus zu erreichen. Museen müssen für alle zugänglich sein. Der eintrittsfreie Museumssonntag ist ein wichtiger Baustein für die kulturelle Teilhabe – die Publikumsresonanz spricht für sich. Um die Resilienz der Berliner Museen zu stärken, setze ich mich auch dafür ein, dass es im Bereich der Digitalisierung vorangeht. Allem voran durch die Förderung von digitalen Kompetenzen und Prozessen. Das wollen wir zum Beispiel durch die Einrichtung eines Fonds für den digitalen Wandel erreichen und durch das Entfristen der sogenannten Resilienz-Dispatcher in den Museen. Diese leisten eine tolle Arbeit, um die Digitalisierung voranzutreiben. Die Dispatcher kennen die Bedarfe am besten, denn sie sind vor Ort in den Kultureinrichtungen, sie sind von der Ideenskizze der Ausstellung bis zur Eröffnung dabei. Aber auch das Thema künstliche Intelligenz muss mitgedacht werden. Da müssen alle zusammenarbeiten. Nicht zuletzt wollen wir den Berliner Museumsverband personell und finanziell stärken. Die Museen geben uns zu dessen Arbeit sehr positives Feedback. Wir möchten außerdem spezielle Kompetenzstellen schaffen, eine für Nachhaltigkeit an der Berlinischen Galerie und eine weitere für die Verwaltung von Künstlernachlässen.
Sie möchten laut Koalitionsvertrag auch »die organisatorische Neuaufstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) vor allem bei der Stärkung der einzelnen Museen, der Reduzierung der Länder im Stiftungsrat und der besseren Finanzierung« unterstützen. Was heißt das genau?
Ich möchte zunächst hervorheben, dass die Stiftungsleitung und das gesamte Team seit der Zusammenführung der Bestände nach 1990 enorm viel gemeistert und geleistet haben. Trotz dieser Erfolge muss man feststellen, dass insbesondere die Strukturen bei den Staatlichen Museen zu Berlin in einigen Bereichen suboptimal sind. Wir wollen die Aufgabenbereiche im Verbund der Stiftung Preußischer Kulturbesitz so umstrukturieren, dass sowohl die Einrichtungen als auch die einzelnen Häuser eigenverantwortlicher und effektiver handeln können. Dass die Zusage besteht, ab 2026 die Länderbeiträge zu erhöhen, ist ein guter erster Schritt.
Die Museen arbeiten seit einiger Zeit die koloniale Vergangenheit ihrer Bestände auf. Welche Position haben Sie in der Diskussion um Restitutionen?
Rückgaben symbolisieren vor allem den Willen, einen Teil des begangenen Unrechts zu korrigieren. Es steht uns dabei nicht zu, mit erhobenem Zeigefinger Ratschläge darüber zu erteilen, was mit Beutekunst in den jeweiligen Herkunftsländern geschehen sollte.
Provenienzforschung ist die nötige Grundlage für diese Aufarbeitung. Wie wollen Sie die Institutionen darüber hinaus unterstützen?
Ich möchte die Museen dabei unterstützen, offen und proaktiv mit dem Thema umzugehen. Mehr feste Stellen für die Provenienzforschung sind dabei ein wichtiger Schritt. Darüber hinaus wünsche ich mir auch, dass einschlägige Ausstellungsobjekte noch besser kontextualisiert werden. Der Blick nach vorne ist mir jedoch genauso wichtig: In Berlin sollten wir Zukunftsprojekte mit Künstlerinnen und Künstlern aus Afrika initiieren und so eine partnerschaftliche Zukunft mit unserem Nachbarkontinent gestalten. Auf die Häuser der Bundeseinrichtung SPK haben Sie nur bedingten Einfluss.
Wie wollen Sie die Berliner Landesmuseen gegenüber den dominanten Staatlichen Museen zu Berlin fördern?
Die Berliner Landesmuseen sind ein wichtiger Teil der Berliner Museumslandschaft und verfügen jeweils über ein eigenes Profil und Alleinstellungsmerkmale. Sie sind attraktiv und erfolgreich. Das zeigen auch die Besucherzahlen des vergangenen Jahres: Insgesamt hatten die Berliner Landesmuseen 7,5 Millionen Besucherinnen und Besucher zu verzeichnen. Deshalb möchte ich hier weniger den Fokus auf Konkurrenz legen, sondern vielmehr auf Kooperation. Beispiele wie der Museumssonntag oder der Museumsverband zeigen, dass auch jetzt schon viel zusammengearbeitet wird.
Die Stiftung Stadtmuseum steht vor größeren Veränderungen. Das Märkische Museum wird jahrelang geschlossen sein. Jetzt verliert die Stiftung auch ihren Direktor Paul Spies.
Das ist richtig, Paul Spies wird auf eigenen Wunsch vorzeitig ausscheiden, um sich verstärkt freiberuflichen Tätigkeiten zu widmen. Das ist ein herber Verlust, er hat eine hervorragende Arbeit gemacht. Bei der Langen Nacht der Museen hatte ich Gelegenheit, ihm das persönlich zu sagen. Die Direktion der Stiftung wird zeitnah ausgeschrieben. Wir gehen davon aus, die Stelle in der ersten Hälfte des kommenden Jahres neu zu besetzen. Paul Spies wird den Übergangsprozess begleiten und eine gute Übergabe sicherstellen.
Was können Sie uns noch über die Zukunft des Stadtmuseums sagen?
Das derzeit größte Projekt des Stadtmuseums ist das Museums- und Kreativquartier am Köllnischen Park. Das Märkische Museum wird grundlegend saniert und modernisiert und mit dem Marinehaus um eine neue Präsentations- und Produktionsfläche ergänzt. Die Berlinerinnen und Berliner können sich auf 2028 freuen. Dann soll der Standort wieder voll in Betrieb gehen.
Am Kulturforum liegt die größte Kulturbaustelle Berlins. Das neue Haus der Nationalgalerie »Berlin Modern« soll 2026 eröffnen. Die seit Jahrzehnten unwirtliche städtebauliche Situation am Kulturforum ist damit nicht gelöst. Klaus Biesenbach will jetzt Blumenkübel und Pflanztröge aufstellen und er würde gern die Straße zwischen Neuer Nationalgalerie und dem Neubau für den Autoverkehr schließen. Wie stehen Sie zu den Plänen? Und haben Sie eigene für das Kulturforum?
Die Pläne von Klaus Biesenbach gefallen mir sogar sehr gut. Im Neubau steckt eine große Chance. Das Areal birgt in der Tat noch Potenzial. Der Mauerfall liegt über dreißig Jahre zurück, und ich begrüße es sehr, dass die benachbarten Einrichtungen sich zu einer gemeinsamen Aktion zusammentun. Dafür wurden schon erste Schritte getan – in dezentralen Ausstellungen, Stadtgesprächen und Kunstaktionen, zum Bespiel auch der Festakt im vergangenen Jahr mit Konzerten und einer Sperrung der Straße. Das Kulturforum soll ein Ort werden, der zum Verweilen einlädt. Ein idealer Treffpunkt, der Bildungsstätte und Kunstoase gleichzeitig ist. Auch die Pläne für die Begrünung des Areals finde ich sehr gut. Für den geplanten »Museumsgarten« stellen wir – gemeinsam mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – Fördermittel bereit. Beim Thema Autoverkehr ist aber selbstverständlich meine Kollegin Manja Schreiner im Lead. Wir werden uns zur gegebenen Zeit mit diesem Thema beschäftigen.
Das Humboldt Forum erweist sich als Berlins Publikumsmagnet. Was kann es für die Stadt außerdem leisten?
Aktuell haben wir im Humboldt-Forum viele Institutionen unter einem Dach. Über die Rolle Berlins im Humboldt-Forum wird noch zu sprechen sein. Dazu bin ich mit Claudia Roth und allen anderen Akteuren im Dialog, um diese Frage zu erörtern.
Im Koalitionsvertrag steht, Sie wollen »ein Stadtentwicklungskonzept Kultur erarbeiten«. Was kann man sich darunter vorstellen?
In der Berliner Kulturpolitik muss Infrastruktur immer ganz vorne mitgedacht werden. Berlin ist eine wachsende Stadt, und es gibt eine verstärkte Konkurrenz um Räume. Die Interessen der Künstlerinnen und Künstler, der Einrichtungen und Gruppen – die müssen hart mit anderen Nutzungsansprüchen verhandelt werden. Deshalb müssen Räume für die Kultur erfasst, erhalten und weiterentwickelt werden. Darüber ist meine Verwaltung in intensivem Austausch mit dem Stadtentwicklungsressort, denn ohne dieses geht das nicht im großen Stil. Aktuell entwickeln wir ein Kulturkataster. Dieses Instrument bietet einen guten Ausgangspunkt, um bei dem Thema konkreter zu werden. Ich will auf diese komplexen Herausforderungen nicht mit noch komplexeren Masterplänen reagieren, sondern mit agilen Prozessen, digitalen Werkzeugen und guten Kooperationen. Ich will die Leute an einen Tisch bringen, wie wir es schon bei den Uferhallen mit Erfolg gemacht haben.
Den Berliner Künstlerinnen und Künstlern fehlt es an Ateliers. Die Räumlichkeiten, um zu arbeiten, werden immer knapper, die Mieten höher. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die Atelierkrise angehen?
Wir gehen da mit einer Raumoffensive heran. Wir werden die Sicherung und weitere Akquise von Kulturräumen in Berlin fortsetzen, das ist im Koalitionsvertrag festgelegt. Derzeit verfügen wir über etwa 2000 Kulturräume und 500 sind in der Entwicklung. Unser Ziel ist es, die Anzahl der Kulturräume, die sich im Besitz des Landes Berlin befinden, bis zum Ende der Dekade zu verdoppeln.
Über die Zukunft der Uferhallen in Wedding wird seit Jahren diskutiert. Sie sind in Gesprächen mit den Eigentümern des Areals. Was konnten Sie bisher erreichen?
Der Hilferuf der Künstlerinnen und Künstler erreichte mich direkt zu Beginn meiner Amtszeit. Als eine meiner ersten Amtshandlungen habe ich alle Beteiligten an einen Tisch gebracht. Jetzt haben wir einen Entwurf für einen Generalmietvertrag für die Uferhallen vorliegen. Diesen prüfen wir momentan gemeinsam mit der Kulturraum GmbH. Ziel ist es, dass das Land Berlin Generalmieter wird und die Künstlerinnen und Künstler zu fairen Konditionen Mieter des Landes werden.
Können Sie Ersatzstandorte für Künstler anbieten, die dort ihre Ateliers verlassen müssen?
Das wird voraussichtlich nicht nötig sein. Wenn vertraglich alles steht, können die Künstlerinnen und Künstler bleiben, beziehungsweise nach einer Umsetzzeit und den erfolgten Sanierungsarbeiten zurückkehren. Das freut mich natürlich sehr!
Welchen Stellenwert hat bildende Kunst in Ihrem Leben?
Bildende Kunst ist für mich Genuss und Erlebnis zugleich. Ich lasse mich gerne von neuen Positionen überraschen und schätze es, wenn mir ein versierter Kunstvermittler Geschichte anhand von Kunst näherbringt. Auch auf Reisen lerne ich neue Städte gerne über ihre Kunstorte kennen. Die neuen Sonderausstellungen in Berlin finde ich klasse und ich freue mich auf die Berlin Art Week und auf das kommende Gallery Weekend. Berlin hat in diesem Bereich wirklich sehr viel zu bieten.
Die freie Szene ist besorgt, dass sie unter Sparmaßnahmen der Kulturverwaltung leiden könnte.
Erstmal dürfen wir festhalten, dass unser Kulturhaushalt den Rekordbetrag von einer Milliarde überschreiten wird. Ja, in einer Zeit der Inflation, der Verschärfung von Raummangel in Berlin und einiger weiterer schwieriger Punkte, die wir schon angesprochen haben, braucht es mehr als das. Da braucht es auch mehr als Geld. Aber angesichts des aktuellen Doppelhaushalts sehe ich auch Chancen.
Welche politische Strategie verfolgen Sie, um Berlin als Ort der Kunst zu bewahren und zu stärken?
Meine Strategie ist ganz klar, Resilienz in allen Bereichen zu fördern. Eben durch Digitalisierung, durch effiziente Förderung, durch das Erschließen neuer Räume und Potenziale. Denn ein solcher Rekordhaushalt ist keine Selbstverständlichkeit.
Sammeln Sie selbst Kunst?
Ich besitze eine bescheidene Anzahl an Kunstwerken. Die Arbeiten hängen bei mir zu Hause und in meinem Büro. Von systematischem Sammeln würde ich nicht sprechen.
Seit einigen Jahren gibt es keine bedeutende Kunstmesse mehr in Berlin. Die landeseigene Berliner Messegesellschaft ist schon vor Jahrzehnten aus der Unterstützung des Kunsthandels ausgestiegen. Wird das so bleiben? Oder gibt es Pläne, die Galerieszene besser zu fördern? Vielleicht auch gemeinsam mit der Wirtschaftssenatorin?
Für den Kunstbetrieb in Berlin ist eine starke Galerieszene als Produktions- und Reflexionsort für Künstler, Kuratoren, Kritiker unerlässlich. »Gemeinsam« ist hier das Stichwort. Mit der Wirtschaftssenatorin stehe ich in gutem Kontakt. Wir sehen manche Dinge ähnlich und planen auch gemeinsame Vorhaben. Messen und künstlerische »Wirtschaftsbetriebe« fallen tatsächlich zunächst in ihr Aufgabengebiet. Wir stehen noch am Anfang unserer gemeinsamen Arbeit. Geben Sie uns Zeit, um wirklich funktionierende Projekte anzustoßen, die dann auch einen Mehrwert für alle bieten.
Das Gallery Weekend im Frühling ist das wichtigste Event für den kommerziellen Kunstbetrieb. Die Berlin Art Week im Herbst ist die Großveranstaltung der Stadt. Wäre da nicht noch Potenzial, um mehr aus dem Mythos von Berlin als Stadt der Kunst herauszuholen?
Der Mythos mag eine Rolle spielen, aber ich glaube, dass wir diesen Mythos nicht brauchen, um das künstlerische Potenzial Berlins zu heben. In unserer Stadt leben weit über 20.000 Künstlerinnen und Künstler, die diese kreative Energie täglich zum Ausdruck bringen! Jetzt gilt es, für Zusammenhalt in der ganzen Stadt zu sorgen und sicherzustellen, dass ausreichend Räume für die Kultur und Kreativwirtschaft vorhanden sind. Das dient der Resilienz und ja, auch der Wirtschaftlichkeit unserer Stadt. Formate wie das Gallery Weekend und die Art Week leisten einen ganz wichtigen Beitrag dazu, dass die lebendige Kunststadt Berlin zusammenfindet.
Die Kulturwirtschaft gilt Ihnen im Koalitionsvertrag als »Berlins größte produzierende Branche«. Wie wird der Berliner Kunstmarkt wettbewerbsfähiger?
Ich begreife das Feld von Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft ganzheitlich. Denn auch die Biografien der Künstler orientieren sich ja nicht an Ressortgrenzen oder unseren Abgrenzungen von gemeinwohlorientierter oder kommerzieller Kulturarbeit. Deswegen will ich, wie bereits gesagt, eng mit der Wirtschaftsverwaltung zusammenarbeiten, um die Förderung der Kreativwirtschaft mit der Kulturförderung an den vielen Schnittstellen bestmöglich zu verzahnen. Zusätzlich können Weiterbildungsangebote auch im nichtkünstlerischen Bereich, wie Finanzcoachings oder Selbstvermarktungstrainings, ins Spiel kommen, um die Künstlerinnen und Künstler bestmöglich für den Kunstmarkt zu qualifizieren. Die Schaffung guter Arbeits- und Lebensbedingungen für die Künstlerinnen und Künstler Berlins ist eines meiner wichtigsten Anliegen. Wenn es die Kulturpolitik schafft, die Akteure auf dem Kunstmarkt zu stärken und sie resilient gegenüber andauernden Krisen zu machen, dann bleiben diese Menschen gerne in Berlin.
Interview – Marcus Woeller